Nachwort
Zwar ist Transsexualität ein seit Alters her bekanntes Faktum, doch folgt daraus für die Gegenwart nicht, daß es einen steten Zuwachs an Wissen über deren Grundlagen, Entstehungsbedingungen oder das Verhalten der davon betroffenen Menschen gibt. Denn das Wissen, über das wir verfügen, hängt auch von unseren Interessen, von der Zur-Verfügungs-Stellung von Informationen, sozialen und politischen Strömungen ab, die unsere Gesellschaft dominieren. Der Sachverhalt kann auch so ausgedrückt werden, daß nicht nur die vorhandenen Informationen und die Existenz eines Wissensfundus ausschlaggebend sind, sondern auch, ob wir davon wissen wollen. Das vorherrschende Bild über Transsexualität in den Bildmedien trägt schrille Farben des Exotischen, scheint einem Tütü-Journalismus entsprungen, der sich an Tüll, Rüschen und Skandälchen erfreut, und der große Angst davor hat, die Sorgen der Näherin in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, damit nicht die schönen Farben vergrauen und die Bilder unverkäuflich werden. Ob das gezeichnete Bild der Wirklichkeit transsexueller Persönlichkeiten entspricht, das ist sehr zweifelhaft.
Ähnlich überzeichnet, aber in andere Richtung, sind auch viele der vorliegenden sogenannten Autobiographien, wobei es sich meist um Phantasien handelt, wie ich sein möchte. Es fällt auf, daß Berichte über das Altwerden, das Alter von Transsexuellen fehlen. Transsexualität ist eine Sache junger Menschen, scheint es, aber nicht zu junger, dafür sorgt das Gesetz. Der ideale Transsexuelle muß daher einerseits reif sein, aber nicht überreif, nicht alt, faltig, schlaff. Der Fetisch Jugend erscheint so als Fremd- und Selbstgefährdung transsexueller Existenz.
Verwechslungen mit dem Transvestitismus sind auch in "Fachkreisen" nicht selten, und folgt man Interviews mit "Normalbürgern", so zeigt sich eher ein Bezug zur Homosexualität. Zur Homosexualität, nicht zum Lesbischen, denn das Bild der Transsexualität ist meist einseitig als eine Art Mann-zu-Frau-Transformation gezeichnet.
Transsexualität ruft Emotionen hervor, bei Betroffenen und vermeintlich Nichtbetroffenen. Transsexuelle, scheint es, haben nicht nur die Schwankungen eigener Identitätsfindung zu ertragen, sondern rufen Erschütterungen der Sicherheiten der Identitäten anderer hervor, und entsprechend eruptive Aggressionen werden spürbar, sobald sich die Personen aus dem Genre federboaschwingender Schattenexistenzen des Nachtlebens in das Sonnenlicht des realen Alltagslebens bewegen. Transsexualität ist, wenn wir diesen fehlerhaften Begriff stehen lassen, keine Teilidentität für den Abend und die Nacht. Das Leben Transsexueller ist kein Teil der Vergnügungswelt, die sich auf einer Bühne abspielt zur Erheiterung der Zuschauer. Wir haben es nicht mit illusionären Welten, sondern mit komplizierten Realitäten zu tun.
Die wissenschaftliche Welt hat sich selbst nur schwerfällig von eigenen Vorurteilen entfernt. Erst in den letzten Jahren wurde der Irrtum korrigiert, daß Transsexualität den sexuellen Störungen diagnostisch zugeordnet wurde. Der Begriff selber spiegelt noch den alten Irrtum wider, und Akzentsetzungen der Forschung scheinen ihm noch zu folgen. Ist die genetische Forschung wirklich ausschlaggebend, wenn es eine Frage der Identität und nicht der Sexualität ist? Hat nicht die Fachwelt auch so getan, als ob es nur eine Mann-zu-Frau-Transsexualität gibt und hat den Weg in die andere Richtung möglicherweise deshalb vergessen, weil sie das gesamte Bild nur vom Mann her entwarf?
Welche Bezüge bestehen zu den Vorurteilen Transsexueller über sich? Gibt es nicht die überzogenen Erwartung, daß sich alle Probleme lösen werden, sobald nur die Operation erfolgt ist? Bestehen nicht Übererwartungen an die Wirkungen von Hormonen? Gibt es nicht als transsexuelle Spezialität eine Sucht nach Hormonen und die Tendenz den Körper einem abstrakten Idealbild anzugleichen, möglicherweise einer ästhetischen Mode? Spielen nicht leichtfertige Verordnungen, finanzielle Interessen, "operative Neugier" bei Behandlern eine negative Rolle?
Auch die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Psychotherapie sind wenig reflektiert. Psychotherapeuten haben meist kaum Erfahrungen mit solchen Persönlichkeiten. In der Ausbildung spielt sie keine Rolle. Kassentherapeuten geben sich kaum damit ab, obschon die Krankenversicherungen diejenigen Institutionen sind, die gerne eine Psychotherapie verlangen, bevor sie der Geschlechtsangleichung zustimmen. Welchen Sinn hat aber eine Psychotherapie, wenn gerade die Unwandelbarkeit der Einstellung ein Merkmal transsexueller Identität ist? Wie ist die Aufgabe von Psychotherapie zu definieren?
Wer kann das Bild der Transsexualität korrigieren, wenn nicht die Betroffenen?
Es haben sich in diesem kleinen Werk Frauen und Männer darangemacht, ihre Erlebnisse und Empfindungswelten darzustellen. Es sind Arbeiten zusammengetragen, die uns, wenn wir nur dazu bereit sind, Einblicke geben in die Erfahrungsbereiche und Selbstbilder. Die Personen kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, und ihre Texte wurden möglichst original belassen. Es ist so ein Lesebuch entstanden, das hofft, anderen, die sich auf diesen Weg begeben, ein Stück weit Hilfe und Hoffnung zu sein, ein Begleiter auf ihrem schwierigen Weg, der sie aus der Isolation in die mitmenschliche Gemeinschaft führen möge und ermutigen will. Andere können sich einfach informieren, versuchen, die inneren Welten ihrer Mitmenschen kennenzulernen, und möglicherweise fällt auch von daher ein Zweifel an der eigenen Identität auf, an ihrer vermeintlichen Sicherheit, an der vermeintlich festen Fügung der eigenen Rolle und der Lebensauffassung.
Als Gutachter durfte ich viele transsexuelle Personen kennenlernen. Es sind auch diesem Erfahrungsbereich zwei Biographien neutralisiert zugesellt worden, deren Geschehnisse inhaltlich identisch sind mit denen wirklicher Personen, und die in ungewöhnlicher Dichte Wirrungen und Dramatik der Identitätsfindung widerspiegeln. Dafür, daß aus Gründen des Personenschutzes Zeit und Orte verändert wurden, wird um Verständnis gebeten, auch dafür, daß einige Autorinnen und Autoren ihre Adressen nicht mitteilen. Wollen Sie, sehr geehrte Leserin bzw. sehr geehrter Leser mit einer Person in Verbindung treten, werde ich mich um Weiterleitung Ihres Briefes bemühen.
Bernhard Wegener
Oktober 1997