Selbstreflexionen
"Bruder sag nicht, daß er eitel
ist,
denn sich selbst häufig und ganz lange zu beobachten,
erfordert Aufmerksamkeit und viel Mut."
(Soeroto, Raden Mas Noto: Flüstern des Abendwinds.
Leipzig und Weimar 1978, S. 24)
Airin
Meine Seele ist nicht Mann oder Frau ...
12 Jahre nach einem "Seitenwechsel"
"Stell Dir vor, Du wachst eines Morgens in einem Körper des anderen Geschlechts auf. Würdest Du Dich nicht ganz schrecklich fühlen? Könntest Du mit der anderen Form umgehen?" so habe ich damals zu erklären versucht, warum ich tat, was ich meinte, tun zu müssen. Ich sah keine andere Alternative, als den Weg vom jungen Mann zur Frau zu gehen. Meine Sexualität, meine Identität, meine ganze Person wurden davon grundlegend berührt und gewandelt. Auf der Suche nach dem, wer ich wirklich bin, begegnete ich dann erst viel später jenem "Ich", das weit jenseits meiner Persönlichkeit und meiner Identifikationen liegt.
Die ersten 22 Jahre meines Lebens tat ich mein Bestes, ein Leben als Junge, als Mann zu führen. Wie das aussehen sollte, davon hatte zumindest meine Mutter eine sehr genaue Vorstellung. Ihre Erwartungen an mich spürte und kannte ich sehr genau und bemühte mich, ihnen zu entsprechen. Sie pferchten mich in ein Bild von mir als Mann, das meinen weiblichen Anteilen gar keinen Platz ließ. Eine Identifikation mit meinem Vater war auch kaum möglich: dafür war er zu gut, zu überhöht und mir emotional zu wenig vertraut.
Im Leben als junger Mann kam ich über das bloße Funktionieren nicht hinaus. Ich ging zur Bundeswehr, weil ich dachte, dort, unter gleichaltrigen Männern, könnte ich "normal" werden. Hier bekam ich die ganze Ablehnung der Männer gegenüber dem Sensibleren, Femininerem am eigenen Leib zu spüren und fühlte mich nur noch einsamer und fremder. Nein, zu "denen" konnte ich nicht gehören. Doch wohin sonst? Noch ein Jahr Psychotherapie bei einem Psychiater, der keinen besseren Vorschlag für mich hatte, als daß ich mir eine Freundin suchen sollte. Die Entfremdung von mir selbst steigerte sich. Meinen Körper, meine Sexualität konnte ich kaum noch ertragen und mein Anblick im Spiegel ließ mich beinahe verzweifeln.
Die andere Möglichkeit
Wenn man sich verliebt, projiziert man bekanntlich seine eigenen, unbewußten Anteile auf den andern Menschen und spiegelt sich selbst im Außen. All dies war mir damals noch gar nicht bewußt, doch ich spürte sehr wohl, daß das, was ich suchte, in mir selbst lag. Bald richtete sich all meine Faszination auf diese andere Möglichkeit meines Selbst. Die schrie danach, gelebt und ausgedrückt zu werden. Den Mann in mir kannte ich nicht. Ich hatte keinerlei Vertrauen zu ihm und nahm ihm immer mehr die Luft, bis ich ihn gar nicht mehr sehen konnte.
Ich bin nicht richtig so, ich will eine Frau sein, ja, ich BIN eine Frau: all mein Sehnen, all meine Fantasien, auch die sexuellen, richteten sich schließlich darauf. Würde ich doch nur wie durch ein Wunder verwandelt, dann könnte ich endlich "glücklich sein"!
Schließlich raffte ich mich auf, besuchte das psychosomatische Institut, eine der wenigen Adressen, die ich hatte. Hier wird man mir helfen, dachte ich. Stundenlange Tests, deren Sinn kaum zu erkennen war. Gespräche, wohlwollende, verständnisvolle auch. Am Ende nur Hilflosigkeit: "Ja, dann machen Sie mal!" Unterstützung hätte ich von ihnen erst zu erwarten, wenn ich den sozialen, äußeren Umstieg bewältigt hätte.
Dies schien mir ohne medizinische Unterstützung kaum möglich. Dann ein langer, glücklicher Nachmittag mit einer Transsexuellen, die den Weg bereits gegangen war. Zum allerersten Mal fühlte ich mich einem Menschen ähnlich, fühlte mich völlig verstanden. Nun war meine Entscheidung gefallen. Stimmen von Therapeuten, die von andern Lösungen sprachen, wollte ich nicht mehr hören. Es gab kein Zurück mehr - ich wußte, diesen Weg würde ich gehen.
"Ein irreversibler Fall mit typischer Vorgeschichte ..."
Angst und Verzweiflung noch wegen der unzähligen, großen und kleinen praktischen Hindernisse. Freunde, ja sogar Eltern und Geschwister halfen, sie zu überwinden. Ein Jahr noch wollten mich PsychologInnen und GutachterInnen beobachten: ein Jahr "Alltagstest", den ich als Frau mit unverändert männlichem Körper zu bestehen hatte. Nahm man mich auch als Frau wahr? Wurde ich "durchschaut"? Ich beobachtete, lauschte ängstlich und war so unglaublich froh, wenn man(n) mich als Frau ansprach. Ich genoß es ungeheuer, meine weibliche Seite nun uneingeschränkt ausdrücken zu dürfen und ließ mich ganz in sie fallen. Flirts, ein Aufblühen, eine emotionale Öffnung, wie ich sie noch nie erlebt hatte - unter enormen, innerem Druck wechselten einander Freude, Angst und eine gute Prise Exhibitionismus in kunterbuntem Durcheinander ab.
Dann war es so weit: "Bei K. handelt es sich um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus mit typischer Vorgeschichte", hieß es in dem Gutachten. Nun befürwortete man auch die körperlichen, operativen Veränderungen, auf die ich schier unendlich gewartet hatte. Unglaublich befreit fühlte ich mich durch diese schwierige Prozedur. Ich war selig und fühlte mich wie neu geboren. Nun war ich "wirklich" Frau: nicht nur mein Körper, sondern auch Zeugnisse, Ausweise und die entsprechenden Gerichtsurteile bestätigten sehr bald, daß ich "als dem weiblichen Geschlecht zugehörig" anzusehen sei.
Leben als Frau
Unwiderruflich hatte ich eine Tür hinter mir geschlossen, einen so verhaßten wie vertrauten Raum verlassen. Zaghaft betrat ich den neuen, der nun vor mir lag und den ich trotz "Alltagstest" zuvor kaum wirklich in Besitz genommen hatte. Wie wollte ich mein Leben als Frau nun gestalten? Ich merkte schnell, daß ich mit einem "ganz normalen" Lebensstil nicht gut bedient gewesen wäre. Die innere Suche nach mir selbst begann eigentlich erst jetzt.
Über mich als Frau wollte ich noch so viel mehr erfahren. Zögernd und ängstlich, "erkannt" und zurückgewiesen, machte ich Kontakt zu Frauenbewegung und Lesbenszene. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, daß ich als Frau lieber mit einem Mann zusammensein wollte, doch nun wurde der Wunsch nach einer Freundin laut, nach einer Vertrauten, mit der ich alles teilen und in der ich mich als Frau spiegeln konnte.
Ich fand sie, und mit ihr eine Lehrmeisterin, die mich die Welt auf ganz neue Weise fühlen und verstehen ließ. Vom Feminismus hatte ich nicht mehr gewußt, als daß Frauen nun eben ein bißchen benachteiligt werden. Eine Bedeutung für mein eigenes Leben hatte ich nie gesehen. Nun erst wurde mir klar, wie eng mich die Zwangsjacke des Patriarchats im Griff hatte, wie destruktiv sich seine alltägliche Gewalt nicht nur auf das Leben der Frauen auswirkt, sondern wie sehr es auch Wurzel meiner eigenen Problematik ist.
Immer mehr nahm ich wahr, welch ungeheuren Einfluß seine Konditionierungen auf das Leben von Frauen und Männern haben - bis hin zur Sprache, die den alltäglichen Sexismus bis tief in unser Denken hinein transportiert.
Ich wurde sauer darüber, daß meine männlichen Kollegen mich selbst und meine technischen Fähigkeiten nicht ernst nahmen. Nun spürte ich immer mehr, wie sich Werte und Normen unserer Gesellschaft, denen ich bis dahin ziemlich kritiklos gegenübergestanden hatte, gegen meine persönlichen Interessen, nicht nur als Frau richten.
Den Zorn darüber konnte ich mit meiner Freundin gut teilen. Aggressiv reagierte sie aber auch auf alles, das an mir noch männlich war und machte mir immer wieder bewußt, wie tief das Patriarchat in mir steckte. Schließlich verließ sie mich: ich sei "keine Frau, allenfalls ein Wesen zwischen den Geschlechtern".
Warum aber ist so wichtig, welcher der Seiten ich angehöre? Die Machtverhältnisse werden zwar von den Feministinnen angeprangert, viele aber stellen die Spaltung der Menschheit in Männer und Frauen kaum in Frage. Entspricht diese den biologischen, psychologischen Tatsachen oder ist sie nur eine Auswirkung des Systems und dient zur Erhaltung der Machtstrukturen?
Viele der heute gelebten Klischees wurden erst im Zuge der Industrialisierung erfunden und unter's Volk gebracht, sind allemal nicht älter als unser Abendland. So viele subtile Konditionierungen prägen uns in unserem Empfinden als Männer oder Frauen - doch unabhängig von ihnen zeigt die Biologie gar nicht mehr so klar getrennte Fronten, sondern nur statistische Wahrscheinlichkeiten. Im Einzelfall können Männer und Frauen emotional und sogar körperlich sehr weit in den Bereich des "anderen" Geschlechtes hineinreichen. Selbst die Mythen über das angeblich so unterschiedliche sexuelle Erleben der Geschlechter entsprechen nicht meiner persönlichen Erfahrung im Einzelfall.
Nun war mir das vom Verstand her klar, und ich erkannte auch sehr deutlich, wie stark diese künstliche Trennung zwischen Männern und Frauen mich selbst auf meinen Weg gezwungen hatte, ohne daß ich sie je hinterfragt hätte. Ich wußte es, spürte auch die männlichen und weiblichen Seiten in mir. Doch vom Gefühl her waren mir Männer immer noch sehr fremd und Frauen zogen mich an, ihnen fühlte ich mich nah und verbunden. Gibt es also vielleicht doch eine rätselhafte Instanz in mir, in der es keinen Zweifel gibt, welchem Geschlecht ich angehöre? Ich habe diese Instanz immer wieder gesucht - und nicht gefunden.
Beziehungen und Begegnungen
Die innere Arbeit mit Teilpersönlichkeiten brachte viele Stimmen, Aspekte von mir an den Tag. Zögernd nahmen auch ein innerer Mann und eine innere Frau Gestalt an. In einem "Clearing" versuchte ich noch, den verletzten jungen Mann in mir weg ins Licht zu schicken. Aber das war wohl wieder einmal einer dieser Prozesse, die bei mir ohnehin nicht funktionieren ...
Schließlich wollte ich ihn gar nicht mehr wegschicken und spürte seinen Wert für mich. Im inneren Dialog mit den zwei Aspekten erfuhr ich langsam, was beide von mir brauchten und wie viel sie mir geben konnten. Nun wollte ich nicht mehr einen von mir ausgrenzen, sondern beide leben lassen und das Potential dieser Möglichkeiten in mir nutzen.
Mit meinem zunehmenden Vertrauen in meinen inneren Mann konnte ich mich auch besser auf Männer in meiner Umgebung einlassen, schließlich sogar in einer Beziehung. Dann wieder eine Begegnung mit einer Frau, ganz tief, ehrlich, liebevoll. Wir dachten erst, unsere Begegnung sei unabhängig vom "Krampf der Geschlechter". Obwohl wir bemüht waren, uns Mann/Frau - Aspekte unserer Beziehung bewußt zu machen, merkten wir erst viel später, daß hier wieder innere gegengeschlechtliche Aspekte miteinander reagiert hatten - ihre innere Frau mit meinem inneren Mann. Ist es nicht immer so, daß unabhängig vom äußeren Geschlecht, in Beziehungen immer die Bindung zwischen dem inneren Mann des oder der einen mit der inneren Frau des oder der andern geschieht? So entsteht ein energetischer Ausgleich, und je stärker man in eine Richtung polarisert ist, desto mehr gleicht das der Partner oder die Partnerin in der Gegenrichtung aus.
Sexualität aber war immer noch ein schwieriges Thema für mich. Warum hatte ich mich als sexuelles Wesen nicht so annehmen können, wie ich war? Eigentlich wollte ich schon gar nicht geboren werden, und als ich in dieser kalten Welt gelandet war, in der ich mich nicht verstanden fühlte und in der meine wahren Bedürfnisse nicht erkannt wurden, da wollte ich bald gar nicht hier sein. Sehr lange blieb das Gefühl, daß ich hier irgendwie verkehrt bin und eigentlich nicht auf diese Erde gehöre. Von klein auf war ich entfremdet von meinem Körper, wollte nie Sport machen und mich nie recht auf das Körperliche, Emotionale einlassen. Hätte ich früher mit Körperarbeit angefangen, mich auf das Erdenleben eingelassen - wer weiß, vielleicht wäre ich dann einen ganz anderen Weg gegangen. Doch so war mir nicht nur mein Körper fremd, sondern auch seine Sexualität. Die Lustgefühle konnte ich nicht unbeschwert genießen, sondern verband sie immer mit masochistischen Vorstellungen von Ohnmacht und Unterwerfung. Welch ein Irrtum, dies für "typisch weiblich" zu halten, ganz so, wie es die gesellschaftlichen Klischees wollen.
Freiheit für den inneren Mann
Ich ging daran, die Beziehung zu meinen Eltern zu klären. Die hinderlichen Muster, die ich von meiner Mutter mitbekommen hatte, waren schnell auszumachen. Meinen Vater aber von seinem Thron zustoßen, all die Wut gegen seine Übermacht auszudrücken, das schaffte ich nur unter Übelkeit und Durchfall. Papa war eben stärker, er war einfach zu gut, als daß ich ihm irgendwie hätte ähnlich sein können. Als ich dann beide in bedingungsloser Liebe ins Herz schließen konnte, war auch sehr viel mehr Frieden in mir selbst gewachsen.
Durch diese und einige andere, emotionale, therapeutische Prozesse konnte ich immer klarer "ja" sagen zu mir selbst - und auch zu dem einst so verletzten Jungen, dem Mann in mir. Je mehr ich meinem Innenleben den Raum gab, sich zu entfalten, desto mehr verschaffte sich auch er Gehör in mir. Immer wieder pendelte ich in seine Richtung, ließ den aggressiven Teil von mir, den Ellenbogentypen, ganz schön durchscheinen durch die sonst so schön auf weiblich polierte Fassade. So vieles hatte ich ausgegrenzt, ausdrücklich nicht leben wollen - so viel Vitalität, Power und Durchsetzungskraft hatte ich von mir abgeschnitten, als ich mich vom Mann-Sein getrennt hatte! Mein "Alter Ego", mein von mir vor Jahren verstoßenes männliches Ich, begegnete mir noch einmal geradezu leibhaftig: es wurde zu einer unausweichlichen, inneren Notwendigkeit, ihn und seine Energie wieder in mich zu integrieren und zu leben.
War es ein Fehler?
Zu lange hatte ich eine Maske getragen, die dafür sorgen sollte, daß ich "eindeutig" als Frau wahrgenommen wurde. Sie hielt den Mann in mir verborgen, den ich nun wieder sehr stark spüren konnte. Und nicht nur ich - auch die vertrauten Menschen um mich herum nahmen die Veränderung wahr. Hatte ich gar einen furchtbaren Fehler gemacht mit meiner Entscheidung, als Frau zu leben?
Da war viel Wut und Schmerz in mir - darüber, was ich mir angetan hatte, über die durch die Eingriffe eingeschränkte Sexualität und über die Beschränkungen, die ich mir auferlegt hatte. Die selbst gewählte weibliche Form fühlte sich wiederum wie eine eingrenzende Maske an. War ich nun ein Mann, der in einem Frauenkörper leben mußte? Wäre es nicht gar eine Erleichterung, den Weg zurück zu meinen männlichen Ursprüngen zu gehen? Im Karneval lebte ich ihn noch einmal aus und ging als "Knabe": Ein kraftvolles Gefühl, eine interessante Erfahrung - und doch wiederum nur unvollständig.
Mein wahres Ich ist androgyn
Wenn ich alles, das ich in mir spüre, frei hervortreten lasse, mich ungehindert ausdrücke, bin ich nicht Mann oder Frau, sondern Mann und Frau. Und eigentlich noch vielmehr als diese begrenzenden Definitionen. Ja, es fühlt sich gut an, das zuzulassen, loszulassen und einfach so zu sein, wie ich mich gerade fühle. Früher hatte ich sehr viel Angst davor, zu "so etwas Undefinierbaren zwischen den Geschlechtern" zu werden. Doch nun kenne ich die Frau und den Mann in mir, ja, ich kenne mich sowohl als Frau als auch als Mann. Die Spaltung zwischen beiden durfte wie in der alchemistischen inneren Hochzeit heilen. Heute identifiziere ich mich mit keinem von beiden - sondern vielmehr mit jenem "spirituellen" Selbst, das sich gar nicht durch die kleinlichen Definitionen von männlich und weiblich begrenzen läßt.
Manchmal fühlen sich Menschen durch mich irritiert und herausgefordert. Dann fordere ich sie auf, sich nicht auf meine äußere Erscheinung zu beziehen, sondern Kontakt mit der Essenz aufzunehmen, die ich wirklich bin. Wenn dann immer mehr jene Liebe mitschwingt, die akzeptiert und keine Bedingungen stellt, werden Begegnungen wahrer, aufrichtiger und tiefer, als es meine Konditionierungen früher jemals hätten zulassen können. Shirley Bassey's Song, den ich früher einmal ganz trotzig mitgesungen habe, klingt heute manchmal ganz fröhlich und selbstverständlich in mir nach: "I am what I am - and what I am, needs no excuses ..." (Oder: ich bin O. K., einfach so, wie ich bin.)
Björn Seidel-Dreffke
Stationen
1.)
"Ich kann mich nicht an meinen ersten Schrei erinnern, der durch die Begegnung mit der mir fremden Welt ausgelöst wurde. Ich weiß jedoch auf das bestimmteste, daß ich von Anbeginn mich als Kömmling empfand, der in eine ihm fremde Welt geriet."
Immer wieder lese ich die Zeilen Nikolaj Berdjaews, meines Lieblingsphilosophen. Zu genau spricht er gerade das aus, was ich empfinde, seit ich mich bewußt als Person wahrnehme. Oft kann ich mich von dieser Lektüre die ganze Nacht hindurch nicht losreißen.
"Das Lebensempfinden, von dem ich spreche, möchte ich als Lebensfremdheit, als eine Ablehnung der Gegebenheiten der Welt, als Nicht-Verschmolzensein, Nicht-Verwurzeltsein in der Erde, als krankhafte Abkehr vom Alltäglichen definieren." Richtig. Ich finde es beruhigend, daß ich jemand kenne und sei es nur auf dem Papier, der das empfand, was ich empfinde.
"Was mir aber stets sehr quälend und schlimm erschien, war mein furchtbares Angewidertsein vom Leben. Vor allem bin ich ein Mensch, den es ekelt, und dieser Ekel ist körperlicher und geistiger Natur. Ich habe mich bemüht, das zu überwinden, aber vergebens. Dabei spüre ich fast gar keine Verachtung; ich verachte niemanden und ich verachte nichts. Aber dieser Ekel ist grauenhaft. Er hat mich mein ganzes Leben lang gepeinigt, so beispielsweise im Hinblick auf das Essen. Das Angewidertsein wird von der physiologischen Seite des Lebens hervorgerufen. Ich habe mein Leben - infolge dieses Angewidertseins mit halbgeschlossenen Augen und Nase gelebt."
Ich schließe das Buch. Zu sehr berühren mich die Zeilen und wühlen mein Inneres auf.
Ja, ja - Weltekel, Weltschmerz, Welthaß. Selbsthaß.
Ich mich, weil ich meinen Körper hasse. Er wäre das Tor zu dieser mir verschlossenen Welt. Das Tor ist verriegelt. Es ist nicht mein Körper!
Doch Berdjaew fand für sich die Lösung im Denken, im Philosophieren, im Kopf. Er hat doch recht! Nur der Kopf zählt, der Geist. Der Körper ist Ballast und behindert das wahre Leben und irgendwann wird man ihn sowieso abwerfen. Dann wird man frei sein.
Alle Religionen bestätigen es. Der Körper ist sündig, der Körper ist wertlos, ist Hülle, die zerfällt, ist gar Strafe.
Wie gut also, daß ich ihn hasse, diesen Körper. Sollen die anderen sich doch auf Abwege begeben, mit ihrem Körperkult und Schönheitskult. Wahrscheinlich habe ich auf diese Weise sogar die besten Voraussetzungen, dem zu widerstehen.
Ich will das Buch wieder aufschlagen. Gut in Büchern bestätigt zu finden, was man sich selbst gerade erdacht hat.
Stechender Schmerz. Eine Migräne kündigt sich an. Ich gehe in die Küche und greife zur Schachtel mit den Kopfschmerztabletten. Seit einiger Zeit wundere ich mich, warum mein Kopf immer öfter streikt, wenn ich mich losreißen will von der Alltäglichkeit und durch die Bücher Ausflüge unternehme, in das mir einzig als wirklich erscheinende Leben. Muß ich vielleicht zugeben, daß ich mich irre?! Stimmt doch etwas nicht an meiner Weltphilosophie? Immer hartnäckiger wird der Gedanke. Seit einigen Wochen schon läßt er sich nicht mehr verdrängen. Immer wieder versuche ich, diese Gefühle zu bekämpfen, aber sie scheinen mir etwas sagen zu wollen, worauf ich keine Lust habe, es zu hören. Schon lange soll mir der Kopf die Nachricht übermitteln und nun streikt er.
Natürlich weiß ich es längst. Ich stelle mich vor den Spiegel, um mir einmal ins Gesicht zu sagen, was ich über mich weiß und um zu sehen, wie mein Spiegelbild auf diese Eröffnung reagiert. Ich postiere mich vor der glatten, kalten Fläche. Ich sehe den Spiegel an, er sieht mich an. Ich weiß, wir mögen uns nicht. Er zeigt mir ein schrecklich verzerrtes, ein falsches Gesicht. Einen dünnen Hals. Zarte blasse Haut, die auch davon nicht derber wird, daß ich sie jeden Sommer stundenlang in die Sonne halte. Dünne Arme, schmale Schultern, eben einen Frauenkörper. Manchmal wird mir eiskalt, wenn ich das sehe, manchmal packt mich die Wut. Diesmal siegt die Wut.
Ich muß es endlich einmal aussprechen. Ich hasse die Welt, da ich meinen Körper hasse. Ich hasse diesen weiblichen Körper. Es ist nicht mein Körper. Es ist der falsche Körper. Ich möchte der Welt entfliehen, weil ich diesem Körper entfliehen möchte. Denn: Ich bin ein Mann!
Ich schreie es dem Spiegelbild ins Gesicht. Er verzieht sich zur Grimasse, aber hinter der Grimasse kommt ein Lächeln zum Vorschein. Ein sich für Sekunden befreiendes Lächeln.
Aber wer soll das begreifen? Keiner wird es verstehen!
Nur diese Weltflüchtlinge, Asketen, von denen die Bücherwelt berichtet, die mögen ähnliches gefühlt haben, wenn vielleicht auch aus anderen Gründen.
Aber die kann ich nicht mehr fragen.
2.)
Ich bin bei Freunden eingeladen. Inzwischen kenne ich das Wort "Transsexualität". Ich habe mir Bücher darüber besorgt. Ich versuche, das erste Mal zu benennen, was mich plagt, als es zu einer Diskussion über Unterschiede zwischen Frauen und Männern kommt.
"Es gibt aber auch weibliche Seelen in männlichen Körpern und männliche Seelen in weiblichen Körpern."
Ich sage es so, wie ich es für mich verstanden habe. Ich bin ein Mann in einem mir völlig fremden Körper.
Pause. Einige starren mich an.
"Es gibt überhaupt keine Seelen", lacht Klaus und ich bin froh, daß er die Gelegenheit nicht nutzt, um eine Erziehungsstunde im Fach Atheismus abzuhalten. Polemik zwischen Religion und Atheismus ist sein Spezialgebiet, und gewöhnlich schafft er es mit durchdringender Stimme und zwingenden Gebärden, die gesamte Runde verstummen zu lassen. Da ihn aber diesmal Barbara mehr interessiert als jede Diskussion, wendet er sich ihr wieder zu und gibt mir die Chance, weiterzumachen.
"Man muß es ja nicht Seele nennen. Man kann auch Bewußtsein sagen. Empfinden. Fühlen ..."
"Wenn schon, dann gibt es nur neutrale Seelen. Erst ist die Seele neutral, dann kommt sie in den Körper und wird rein formal dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Aber im Prinzip gibt es gar kein Geschlecht. Das haben sich die Ideologen des Patriarchats nur ausgedacht, um ihre Herrschaft über die Frauen aufrechtzuerhalten."
Das war Cornelia, die Feministin und sie ist bereit, mich für jeden weiteren Satz in der Luft zu zerreißen.
Aber wer soll solch komplizierte Prozesse hier auch klären, darüber gibt es kaum abgesicherte Forschungsergebnisse, nur Thesen. Aber man muß eben alles in Begriffen fassen. Sonst kann man sich nicht mitteilen. Ich hole tief Luft und versuche es doch noch einmal:
"Also, egal, was ihr jetzt denkt. Ich fühle mich jedenfalls als Mann in einem weiblichen Körper. Ich bin transsexuell."
Jetzt starren mich alle an. Keiner lacht. Es ist eigentlich auch keiner entsetzt.
Ich weiß, daß ich es jetzt erklären müßte, genau erklären, was ich fühle. Aber die Worte fehlen. Gefühle zu beschreiben ist meine Sprache nun zu schwach. Das können vielleicht Poeten in ihren langen Gedichten. Ich bin kein Poet.
Ich beschließe, es erst richtig für mich zu klären.
Ich beginne den Dialog mit mir selbst.
3.)
Inzwischen lerne ich Transsexuelle kennen und sehe, daß es einen Weg gibt. Einen Weg des Körpers.
Doch ich versuche immer noch, mit Worten und Gedanken das Problem zu klären. Immer noch wollen mich Worte besiegen. Warum haben Worte diese Macht über mich? Noch immer versucht sich der Kopf in seiner Führungsposition zu behaupten.
Ich selbst glaube auch noch fest an seinen Sieg. Schließlich gibt es Philosophen, Asketen ... Jahrhundertealte Erfahrung kann nicht täuschen. Wichtig ist ein starker Wille, ein starker Geist. Der Weg ist laut Berdjaew: Vergeistigung des Lebens der Materie bis zu ihrer Zerstörung. Das muß einfach richtig sein.
Ich spreche mit Studenten über mein Problem. Sie haben aufmerksam zugehört, und ich kann an ihren Augen ablesen, daß sie verstanden haben. Sie haben viel gefragt, und ich scheine Worte gefunden zu haben, die überzeugend waren.
Doch ich spüre: es waren nicht nur die Worte, die gewirkt haben. Es war mehr. Was war dieses mehr?
Nach dem Unterricht will ich wieder beginnen, über mich nachzudenken, als mich ein Student anspricht. Er redet leise, traut sich nicht recht.
Ich ermuntere ihn, Platz zu nehmen.
Er setzt sich. Dann sagt er:
"Ich kann sie sehr gut verstehen. Ich kann mir vorstellen, daß es wie eine Behinderung ist."
Olaf ist behindert. Er redet weiter:
"Ich stelle es mir so vor. Der Kopf will, daß der Körper auf bestimmte Weise reagiert. Für den Kopf ist es ganz klar und logisch, daß der Körper so reagieren können müßte. Aber der Körper schafft es nicht. Das Bewußtsein hat eine genaue Vorstellung davon, wie der zu ihm gehörende gesunde Körper aussehen müßte. Das hat nichts mit übertriebenen Idealen zu tun. Es ist da einfach eine Disharmonie."
Er erzählt davon, wie schwer ihm das Studium fällt, da er sich nur schlecht konzentrieren kann. Er kann sich seine Behinderung nicht wegdenken. Es belastet ihn, immer wieder die gut gemeinten Ratschläge der anderen zu hören:
"Denk nicht dran!"
"Reiß dich zusammen!"
"Wenn man will, kann man alles!"
Er wäre froh, durch eine Operation die Behinderung zu überwinden. Aber sie ist irreparabel. Er meint, Operationsnarben verheilen eines Tages, dann können auch die Narben in der Seele, im Kopf heilen. Er kann diese letzteren Narben nie loswerden, aber er wünscht mir Glück auf meinem Weg.
Tatsächlich. Er hat Recht. Immer wieder bin ich verunsichert, wenn der Körper andere Reaktionen zeigt, als sie nach meiner Vorstellung für meine innere Befindlichkeit adäquat wären. Nach zweistündigem Unterricht, während dem mir beinahe unablässig meine hohe Stimme im Ohr vibriert, bin ich oft nervlich völlig fertig. Etwas in mir weiß, daß dies gar nicht meine richtige Stimme ist. Trotz aller Mühe kann ich sie nicht tiefer klingen lassen. Manchmal lenkt mich die Anstrengung, die mit diesem aussichtslosem Kampf verbunden ist, sogar vom Vortrag ab.
Streiche ich mir über Gesicht, Arme oder Beine, schreckt mich deren Glätte. Wo sind die borstigen Härchen, die doch zu mir gehören und die nicht wachsen wollen?
Laufe ich, will sich trotz ausladender Schritte und betont festen Auftretens die rechte Schwere der Körperbewegung nicht einstellen. Männer laufen anders, weil sie einen anderen Körperbau haben. Ständig spüre ich, daß ich irgendwie nicht so laufe, wie es für mich richtig wäre. Meine übertriebenen Versuche führen dann zu Lächerlichkeiten. Das erzeugt wieder Wut. Ich kann mich nicht mal beim erholsam wirken sollenden Spaziergang auf meine Umwelt konzentrieren. Die Disharmonie zwischen der Vorstellung von meinem Körper und seiner realen Existenz führt zur absoluten Nach-innen-kehr aller meiner Sinneswahrnehmungen.
Ich starre auf den Bücherstapel im Regal. Etwas in mir zerbricht. Ein Glaube.
Auf einem Buchrücken steht. Nikolaj Berdjaew "Reich des Geistes oder Reich des Cäsar". Warum nicht "Reich des Geistes und Reich des Cäsar"?
Philosophie. Vielleicht manchmal auch Flucht vor sich selbst. Auch der Körper hat sein Dasein. Er lebt und hat Rechte. Dialektik statt Hierarchie. Herrschaft ist vielleicht generell die falsche Lösung. Materie und Geist miteinander.
Ich nehme mir den Berdjaew aus dem Regal. Ich spüre, daß ich wieder flüchten will. Ich werfe das Buch zu Boden. Die Sekretärin steckt erschrocken den Kopf durch die Tür. Ich hebe das Buch auf, dessen Rücken einen Riß bekommen hat.
"Nun ist der Berdjaew gerissen", sage sich entschuldigend und stelle das Buch auf seinen Platz zurück.
Ich muß eine Entscheidung treffen.
4.)
Seit einem Jahr nehme ich Hormone. Testosteron. Laut Beipackzettel führen sie zur "Ausbildung der männlichen Geschlechtsmerkmale". Das klingt medizinisch kühl. Für mich bedeutet es Leben. Das erste Mal in meinem mittlerweile 32jährigem Existieren.
Nun fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, was sich seitdem alles verändert hat. Vieles ist so tiefgreifend, daß ich mich manchmal frage, ob wirklich nur ich mich verändert habe oder nicht sogar die gesamte Welt.
Ich sinke Stück für Stück in mich hinein. Eine Scheibe zerbricht und ich komme in der Welt an.
Den Strauch da habe ich früher immer übersehen. Zu erstenmal sehe ich die unscheinbaren Knospen unter den Blättern. Ich wundere mich, daß es überhaupt Blätter mit solch sonderbaren Formen gibt. Doch die anderen bestätigen es: "Ja, der sah immer schon so aus." Nur ich habe es nicht gesehen.
Das Glas, hinter dem ich früher gelebt habe, muß sehr dick gewesen sein. Nie hätte ich vermutet, daß es draußen eine derartig bunte, farbenfrohe Welt gibt.
Plötzlich finde ich Dinge interessant, über die ich früher gelacht habe.
Einmal bleibe ich vor einem Video-Shop stehen und sehe mir die Kassetten an. Es macht mir Spaß, auch die zu betrachten, die eindeutig für das werben, was ich früher derartig öffentlich ausgestellt, einfach abartig gefunden hätte. Ich zwinge mich nicht zum Vorübergehen, sondern beschließe den Kauf.
Das Leben wird rund. Ich habe aufgehört, es einzuteilen in eine "hohe" und eine "niedere" Seite.
Ich finde plötzlich Gefallen daran, mir neue Kleidung zu kaufen. Wie bewundernswert asketisch fand ich früher das ständig wiederkehrende eintönige Grau meiner Pullover. Wie verwandelt fühle ich mich in der Motorradjacke aus schwarzem Leder. Leder hat Ausstrahlung. Ich kann es spüren. Umsonst habe ich mir früher rational zu erklären versucht, was wohl den Reiz dieser Bekleidung ausmacht.
Ich bekomme einen Körper, der beginnt, die Welt in mich einzulassen.
Breite Schultern, Muskeln, Behaarung in Gesicht, an Brust und den Beinen, eine tiefe Stimme - mit jedem Tag kann ich mehr zu mir sagen: "Das bin ich. Ich bin ein Mann. Ich heiße Björn."
Hab ich je anders gehießen?
Ich werde auch äußerlich zu dem, was ich innerlich immer schon war. Um mich herum stellt sich alles auf seinen rechten Platz. Immer weniger habe ich das Gefühl, in einer verkehrten mir völlig fremden Welt zu sein. Das Wort "zu Hause" bekommt für mich einen völlig neuen Klang. Ich bin nun in mir selbst behaust.
Manchmal habe ich das Gefühl, als sei das doch immer schon so gewesen. Als habe es kein "davor" gegeben. Keine Qual. Keinen Haß. Keinen Ekel.
Sicher, ich bin nicht schön. Doch das Spiegelbild zeigt mir lächelnd einen sympathischen Mann. Dieser Mann hat glückliche Augen.
Nur die morgendlichen und abendlichen Waschungen erinnern mich daran, daß etwas mit mir anders ist als bei anderen Männern. Mich fröstelt dann trotz des warmen Wassers. Schnell ziehe ich mich wieder an.
Der Weg ist noch nicht zu Ende. Aber ich weiß, ich werde meinen Weg gehen. Den für mich richtigen Weg. An dieser Stelle fehlen mir die Worte. Und das ist gut so.
Edgar Simdorn
Komplett!
Ögidius (alle Namen außer meinem habe ich geändert) erzählt mir von seinem Schwammerl an der Nase und sieht dabei wirklich niedlich aus mit der "Nasenschleuder", die man ihm verpaßte. Eine schlimme Sache. Man mußte einen Tumor entfernen, was diesem Vierundachtzigjährigen fast die ganze Nase kostete. Die "Nasenschleuder" sah etwas wie eine Verkleidung (Zorro) aus und Ögid traf eines Tages auf dem Gang einen jungen Mann, der genauso maskiert war wie er. Man erblickte sich, es hüpfte ein einziger Lacher aus beiden "Nasen" und dann ging man weiter. Ögid fragte mich später, wie es sein kann (ich verstand sein Bayrisch so schlecht), daß ein so junger Kerl bereits so eine schlimme Krankheit haben könne. Ich dachte mir, vielleicht hat er seine Nase futschgekokst oder was man sonst noch Giftiges wegriechen kann. Aber Ögid wirkte so ungiftig, daß ich's für mich behielt und versprach, ich würde mal recherchieren. Zu unserem Entsetzen erfuhren wir dann, daß man sich geprügelt hatte und jemand diese Nase einfach abgebissen hatte. Ich frage mich heute noch, wie wohl Nase schmeckt.
Dies war noch zu der Zeit, da ich fast völlig fixiert im Krankenbett lag nach der Aufbauoperation. Ich war mit dem linken Bein am Bett festgebunden, trug einen Katheter und mein Kunstschwanz (man nennt ihn eigentlich "Penoid" aber der Begriff Schwanz ist bei mir nicht negativ besetzt und Kunst ist von Chirurgen tatsächlich vollbracht worden) war durch einen Faden an einen Bettenbahnhof festgebunden, so daß er senkrecht oder "lotrecht" vom Körper abstand. Durch die rechte Armvene wurden regelmäßig Heparin und Antibiotika sowie Schmerzmittel nach Wunsch injiziert. Das rechte Bein hatte am Oberschenkel eine etwas brennende Wunde von der Spalthautentfernung und die Wade schmerzte, weil hieraus schließlich das wesentliche Material für mein künstliches Geschlechtsteil entnommen wurde.
Wenn ich recht gehe in meinen Annahmen und noch alles aus dem Gedächtnis zusammenbringe, entnahm man ca. 18 cm vom Wadenbein, einen Nerv, einen Muskel und Fettgewebe, ein Stück von einem oder zwei Blutgefäßen und Vollhaut - fertig ist die "Laube"!
Es hört sich grausig simpel an, ist aber sehr kompliziert und eine kreative, anspruchsvolle Arbeit für den Chirurgen.
Heute, vor genau vier Wochen, betrat ich die Klinik. Ich war aufgeregt, etwas ängstlich (es gab schon eine Operation dieser Art, leider starb der damalige auch sehr gelungene Kunstpenis ab, was nie auszuschließen ist). Aber voller Hoffnung und was vielleicht das wichtigste war, ich war frisch verliebt, das war mein Gepäck, betrat ich das Krankenhaus.
Nun bin ich schon wieder drei Tage zuhause und habe genügend Distanz zu den Schmerzen, so daß ich dies alles frisch berichten kann.
Letztens erschien in einer Illustrierten ein mehrseitiger Bericht über die Sorgen der Männer um ihren Penis. Da ging es um Quantität und die Qualität, die sich nicht von der Quantität ableiten läßt und darum, daß zumeist die Männer auf die Größe der anderen schielen. Nun ja, ich habe mit vielen Frauen schon über dieses Thema gesprochen, so unterschiedlich wie die Menschen zum Glück sind, so unterschiedlich sind die Bedürfnisse, Vorstellungen und bestimmt auch die Irrtümer, was dieses Organ betrifft. Schade, daß wir alle so ängstlich sind. Es gäbe viel mehr Spaß, wenn man dem Sex, welcher ja nicht unbedingt nur der Vermehrung dient, ein wenig spielerischer begegnete. Ich empfinde ihn unter anderem als eine Form von Kommunikation, der nichts gleich kommt. Man kann sich einander mitteilen ohne oder mit Worten und manche Situationen sind gerade durch ihre Komik ein ungeheurer Kraftspender. Das Bedürfnis nach Nähe ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, wie sollte ich geistige und körperliche Nähe strikt trennen, ich weiß es auch nicht, man wünscht sich halt beides und manchmal erfährt man es auch, und das erhöht die Freude am nackten Leben enorm!
Was einem alles passieren kann, wenn man im Krankenhaus ist, kann man ja vorher nie genau wissen. Ich mußte wieder einmal feststellen, wo meine Frustrationstoleranz endet. Man ist ja den Mitpatienten ebenso ausgeliefert wie allen sonstigen aktiven Anwesenden, wobei ich bemerken muß, daß alle dort Arbeitenden mir sehr angenehm und fürsorglich entgegenkamen.
Als Beispiel für verzweifelte Situationen bringe ich Otto. Er hatte sich zwei Finger der rechten Hand verletzt, als eine Farbspraydose (Autolack) explodierte. Er schüttelte sie vorher, wie es verlangt wurde und peng!
Erstmal hat jeder spontan mein Mitgefühl nach einem Unfall. Aber manche Menschen schaffen es, daß man sich fragt, warum diese soviel Glück im Unglück haben und es nicht einmal bemerken.
Also, Otto war etwa vier Tage in Ögids und meinem Krankenzimmer. Er bekam in dieser Zeit ca. 40 Besucher, ich war an mein Bett gefesselt, konnte nicht weg, er hätte seinen Besuch ebenso in die Cafeteria oder auf den Flur führen können! Also etwa 60 mal (ist übertrieben, mir kam es aber öfter vor!) erzählte er seinen schrecklichen, unfaßbaren Unfall mit immer der gleichen Melodie, denselben Worten. Ich erinnere mich besonders, daß er am Schluß immer wie ein Kleinkind (44 Jahre alt) betonte: "Ich habe doch nur geschüttelt, wie alle schütteln!"
Vielleicht war dieser Satz ja komisch gemeint, ich werde es nie erfahren. Aber selbst gute Komik darf sich nicht ständig wiederholen.
Ich verfolgte also seine Geschichte stets auf's neue und war fast neidisch, wie egal es Otto offensichtlich sein mußte, daß er Zeugen hatte, die für ihr ganzes Leben wußten, was für ein winselndes Arschloch er ist. Dies zu seiner Schüttelstory. Nun zu seiner herrlichen Familie. Seine Frau, eine offensichtlich gesunde, adrette Mittvierzigerin, nannte er "Mutti". Ich konnte es mir nicht verkneifen zu bemerken, daß seine Mutter ja unglaublich jung sei, was er gar nicht honorierte durch eine von mir erhoffte Spitzfindigkeit, nein! Er sagte allen Ernstes, daß dies doch seine Frau sei, und er sie nur liebevoll "Mutti" nenne. Mir fiel aber auf, daß die Gattin ihn keineswegs kongruent "Vati" nannte. Also mir war übel. Da er die rechte Hand verbunden bekam, fühlte er sich offensichtlich dermaßen behindert, daß er fast nie aufstand, und als ihm mal seine Zeitung aus dem Bett fiel, bat er den lieben vierundachtzigjährigen Ögidius, ihm doch die Zeitung vom Boden aufzuheben, was mich aufbegehren ließ. Ich sagte, daß es schon putzig ist, sich jeden Abend von "Mutti" von Kopf bis Fuß abseifen zu lassen mit vierundvierzig Jahren wegen zwei derangierten Fingern, daß es fast nicht mitanzusehen und zu hören ist, mit welchem Leidensdruck er all seinen Besuchern eifrig seinen Krankenbericht mitteilte (es war ihm wirklich nicht mal selbst zuviel!). Aber dem Faß den Boden auszuschlagen mit dieser Bitte an Ögid, war einfach zuviel des Guten!
Das Schlimmste, Otto war mir nicht einmal böse, im Gegenteil, jeden Morgen begrüßte er mich: "Mein Freund(!) Edgar!" Bereits am zweiten Tag lag auf meinem Nachttisch ein Heft "Erwachet", er gehörte nämlich den "Zeugen Jehovas" an.
Ich kämpfte gegen meinen Widerwillen an und las in dem Heft. Man beschrieb in dieser Ausgabe ausführlich und recht sachlich Ursachen und Folgen des Herzinfarkts. Die anderen Berichte drehten sich um Natur, Alltag und den Untergang. - Macht ja nichts. Wenn Otto sich verkniffen hätte, sich vor mich hinzustellen, derweil ich ans Bett gefesselt war, und mir aus seiner wichtigen Spezialbibel zusammenhangslos vorzulesen (dies war nicht irgendeine sondern die "einzig richtige Bibelübersetzung", erklärte er mir ziemlich unfundiert), dann hätte ich mich bedankt, ihm das "Erwachet-Heft" zurückgegeben und gut.
Ob dem "Chef" der Zeugen Jehovas solch ein Anhänger peinlich ist, habe ich mich gefragt, na jedenfalls warf ich ihm sein Heft zurück, beteuerte, ich sei wacher als mir lieb ist und daß mein Interesse an seiner Lebensphilosophie (die er mir nicht wirklich plausibel erklären konnte, vielleicht hätte ich besser "Mutti gefragt!) ruckartig auf Null gesackt sei. Er war immer noch nicht sauer. Ich mußte einfach zu dem Schluß kommen, daß er stumpf war, ist und bleiben wird und sehnte fürderhin beharrlich den Tag seiner Entlassung herbei, was ja auch bald geschah. Mir kamen diese Tage und Nächte wie Jahre vor. Ach ja, seine zwei Kinder nannte er nicht folgerichtig "Oma" und "Opa", sie waren sechzehnsechszehn (das Mädchen) und neunzehn (der Junge), sehr artig angezogen und wirkten erzogen, mehr kann und, ehrlich gesagt, möchte ich auch nicht zu Otto berichten, es reicht mir schon wieder!
Im Nachhinein lache ich über diese Geschichte, zum Glück gehen nicht nur schöne Zeiten vorbei, sondern auch die schlimmen.
Da außerdem das Ergebnis meines letzten Krankenhausaufenthaltes ein so erfreuliches ist, bin ich ja auch ein Glückspilz unter den Transsexuellen, bei allen Bedenken, mich speziell zu diesem Thema zu äußern, stand an erster Stelle, andere weder zu erschrecken noch zu entmutigen. Aber da man ja die Wirkung seiner Worte nie genau vorhersehen kann, weiß ich nicht, ob jemand mißversteht. Ich würde alles, was ich unternommen habe, um als Mann zu leben, noch mal versuchen trotz der Komplikationen und trotz der Kraft, die aufzubringen war. Und ich bin wirklich nicht sehr mutig und kann eher gar nicht so gut Schmerzen erdulden, womit ich sagen will: "Das Schaffst Du Auch; Der Sich Hier Angesprochen Fühlt!"
Man erlebt so eine Art Metamorphose äußerlich und bemerkt nicht nur mit wachsender Begeisterung, wie das eigene Erscheinungsbild dem inneren Wesen ähnlich wird. Nein, was auch mehr oder weniger anders wird, ist das eigene Auftreten mit wachsendem Selbstbewußtsein und daraus sich ergebend, wie die Umwelt einem entgegentritt. Es muß ein ungeschriebenes Gesetz existieren, was die Menschen dazu veranlaßt, sich durch die Unsicherheit der anderen genauso mitreißen zu lassen wie auch von der Kraft einer glücklichen Mitte. Es ist wie ein Zauber oder ein Wunder, bei dem man mitmischt. Wenn ich mir früher oft Situationen schuf, um "richtig" zu reagieren, kann ich heute viel "waghalsiger" ins Leben stolpern, ohne diese störende Angst, etwas unwiderruflich zu vermasseln. Also meine Hoffnung steigt, eines Tages endlich die Probleme und Freuden meiner nichttranssexuellen Umwelt teilen zu können, ohne mein Vorleben verleugnen zu müssen. Denn eines sei an dieser Stelle unbedingt festzuhalten, die Menschen, denen ich begegnete, reagierten doch zum allergrößten Teil sehr freundlich bis verständnisvoll oder gar interessiert auf meinen "Wandel". Und wenn man bei all den Kämpfen mit sich selbst das Interesse am "Elend" der anderen nicht verliert, wird dieses auch erwidert. Und, da mache ich mir gar nichts vor, der Kampf mit sich selbst hört sowieso nicht auf, es sei denn, man stirbt, was danach kommt, ist auch nicht bewiesen worden. Das lasse ich mir auch gerne offen - man muß ja nicht alles wissen und man weiß sowieso nichts!
Ich bin also jubelnd auf dem Weg in den Alltag meiner Mitmenschen und verliere nach und nach das Gefühl, im Minusbereich zu starten. Es gibt so vieles, was den meisten, die ich kenne, verhältnismäßig leicht von der Hand geht, das ich noch lernen will. Ich war eben in der Vergangenheit so mit meinem speziellen "Werden" beschäftigt, daß ich das "ganz normale Leben", den Kampf um die Existenz zum Beispiel, eher mit Ach und Krach als zufriedenstellend bewältigte. Letztens las ich bei Erich Kästners "Fabian", "ob es nicht langsam Zeit würde, dem Leben, das man so liebe, etwas seriöser zu begegnen, denn die Armut sei bisweilen eine schlechte Angewohnheit in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so leicht belohnt würde".
Und ich hoffe, daß mir noch genügend Kraft verblieben ist, um auch diesen Kampf einmal bewußt mitzubestreiten, Mal sehen, wohin der Wind mich bläst.
"Hannelore, Hannelore, schönstes Kind vom Halleschen Tore, niemand weiß so ganz genau, ob du 'n Mann bist oder Frau ..." tönt Frau Waldoff vom Band. Ja, ja, ist ein altes Lied und noch viel älter die Geschichte. Man ist eben, zum Glück ist es so, nicht allein mit seinen kleinen Problemen!
Als ich noch "Eva" hieß, war ich nicht das "schönste Kind vom Halleschen Tore". Man sprach mich auch damals meistens mit "junger Mann" oder derart an. Man war ja Verkleidungskünstler!
Nur beim draußen Baden mit wenig Bekleidung war unverkennbar, was meine "natürliche" Verkleidung bedeutete. Das war dann jedesmal mein ganz persönlicher Fasching, nur weniger lustig. Ich erinnere mich, als wäre es heute passiert, wie ein Junge in etwa meinem Aalter, ich war 11, in der Badeanstalt blökte, daß es ja langsam Zeit würde für mich, einen Bikini zu tragen. Das hatte gesessen! In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich nicht in Badehose rumlief, um weniger anzuhaben, sondern um dringend als "Junge" durchzugehen. Damit war ein großer Teil meiner Unbefangenheit erst mal gebannt.
Es folgten aufregende Jahre der Selbstergründung mit mehr oder weniger Erfolg, die mich mit einunddreißig Jahren definitiv dazu veranlaßten, sogenannte "Nägel mit Köpfen" zu machen. Ich wandte mich an eine Transsexuellen-Selbsthilfegruppe, informierte mich über Wege und Möglichkeiten, seine Geschlechtszugehörigkeit umzubestimmen und fühlte mich großartig wie schon lange nicht zuvor.
Nun sitze ich hier und tippe schlecht auf der Schreibmaschine, um einige Erfahrungen an jene weiterzugeben, die noch zweifeln oder die es aus anderen Gründen interessiert, wie man an seiner Persönlichkeit zu knabbern hat.
Ich erwähnte bereits, daß ich frisch verliebt bin. Dazu gehört, daß ich erstmalig mit Penoid beischlafe. Also ich bin begeistert! Bekanntlich erfordert ja alles eine gewisse Übung und Geschicklichkeit. Dazu kann ich nur anmerken, ich übe gern! Meine Freundin ist nicht ungehalten und in der vorzüglichen Lage, Spaß zu haben, mit der guten Portion Humor und Herzenswärme, um hoffentlich mit mir alt und grau zu werden.
Petra-Maria Scholz
Über das Glücklichsein
Was ist eigentlich Zufriedenheit?
Das ist eine gute Frage. Einige werden denken, wenn man viel Geld hat und reich ist, dann ist man glücklich und zufrieden.
Freilich ist es schön, wenn man sein Auskommen hat, und ein bißchen Geld beruhigt, aber macht es nicht auch manchmal unglücklich? Ich möchte auch so schnell manches Stück haben und weiß, daß man nicht alles auf einmal haben kann. Da denke ich manchmal: "Andere, die eine gute Arbeit haben, können sich viel mehr leisten und kommen eher an ihre Ziele." Schon dieser Gedanke, obwohl vielleicht unbegründet, macht mich unzufrieden, obwohl ich zufrieden sein könnte, ein Obdach, Möbel zu haben und keinen Hunger leiden zu müssen, ich meine, darüber bin ich schon zufrieden.
Das heißt, ich bin zufrieden, aber auch unzufrieden.
Viele sagen, daß es keinen Menschen gibt, der so richtig zufrieden ist, obwohl ich dies weniger glaube. Ich denke, ein zufriedener Mensch muß erst einmal mit sich selbst ins Reine kommen, solange er das nicht erreicht hat, ist er unzufrieden.
Ich kaufte mir zum Beispiel neue Möbel und war zufrieden. Als nach ein paar Tagen alles renoviert war, und sie standen, war meine Zufriedenheit vergangen.
Bin ich zufrieden, trinke ich manchmal oder peitsche mich mit anderen Mitteln hoch, um diese momentane Zufriedenheit noch besser ausleben zu können. Bin ich unzufrieden und halte es nicht mehr aus, nehme ich Mittel, um zufriedener zu sein. Obwohl ich dann zufriedener als zufrieden bin, weiß ich, daß ich in Wirklichkeit unzufrieden bin, und obwohl ich eigentlich Grund hätte, in der Wirklichkeit zufrieden zu sein. Aber scheinbar bin ich nicht zufrieden, auch wenn es scheint, daß ich es bin, würde ich denn sonst manchmal die Zufriedenheit mit Suchtmitteln höher schrauben? Also muß ich zugeben, daß ich mit mir selbst nicht im reinen bin, wie manch einer, der wirklich zufrieden ist. Sonst würde ich die Zufriedenheit nicht mit Mitteln noch zu steigern versuchen, um ein noch besseres Feeling zu haben.
Also verdränge ich die Wirklichkeit meiner Zufriedenheit.
Warum verdränge ich die Wirklichkeit?
In erster Linie, weil ich mit mir nicht im Reinen bin. Warum bin ich mit mir nicht im Reinen?
Einerseits muß ich dankbar sein, daß ich körperlich gesund bin. Wenn es nicht so wäre, müßte ich mich damit abfinden, also Dinge hinnehmen, die ich nicht ändern kann.
Das stelle ich mir aber einfacher vor, als meine seelischen Probleme.
Man ist zwar von der körperlichen Seite her gesund, aber das Seelische macht doch auch krank, vielleicht noch etwas schlimmer.
Warum soll man da Dinge hinnehmen, wo eine Änderung möglich ist, und es eventuell zu einer innerlichen Befreiung führt?
Da wird man nun, wie in meinem Fall, in einem männlichen Körper geboren und innen sieht es anders aus. Man hat theoretisch noch nichts "verbrochen" und wird nach seinen äußeren Merkmalen beurteilt, es wird vorgeschrieben, wie man zu leben hat, auch wenn man sich unbewußt schon im jüngsten Alter dagegen sträubt.
Da fängt doch schon die Unzufriedenheit an, und da beginnen doch schon die seelischen Makel.
Heute ist das vielleicht anders, aber zu meiner Zeit hatte es keine Probleme zu geben. Man müßte sich nur anstrengen, dann würde es gehen.
Macht es nicht von Grund auf unzufrieden, wenn man sich immer danach richten soll, was andere von einem verlangen?
Nur, weil man anders ist, wird man zur Unzufriedenheit verurteilt. Ganz normal ist es, daß man sich da einen Ausweg sucht.
Als Kind ist es schwer, und es kann passieren, daß man sich aus Frust und seelischem Defizit heraus vielleicht in Diebstahlshandlungen oder Wutausbrüche flüchtet. Später suchte ich zum Beispiel meine Zufriedenheit in der Droge, erst mal das einfachste Ziel - der Alkohol. Sicher habe ich mich früher in anderer Form beruhigt, indem ich Schokolade stahl und abend im Bett heimlich naschte, um mir selbst Liebe zu schenken. Später träumte ich mir meine fehlende Liebe im Alkohol etc. Damit lernte ich zu leben und kam auch zu einer gewissen Zufriedenheit, überspielte damit aber meine weiter bestehende innere Unzufriedenheit. Ich wußte einfach nicht, wie ich meine Unzufriedenheit zur Zufriedenheit umgestalten kann und wurde damit suchtkrank.
Ich konnte nicht mit meinem Äußeren leben, da ich innerlich anders war und denke, daß die Seele und damit das Innere der eigentliche Grundstein unseres Lebens ist. Man ist also in einer Form defekt und damit irgendwie seelisch beeinträchtigt. Obwohl ich heute dankbar bin, daß man mir die Möglichkeit gegeben hat, die äußeren Merkmale dem inneren weiblichen Gefühl anzupassen, habe ich heute noch Probleme, die mich teilweise unzufrieden machen. Da ist zum Beispiel ein Teil der Gesellschaft, der einen als "unnormal" abstempelt, nur weil der sich einbildet, selbst normal zu sein. Denn ich merke oft, daß man weniger geachtet wird, weil man nach geschlechtlichem Empfinden beurteilt wird. Dann ist die Gesellschaft auch verlogen, denn einerseits finden es manche toll und interessant, wie man in das andere Geschlecht überwechselt. Es wird betont, wie gut man aussehe, und man schmiert einem viel Zuckerwasser um den Mund. Das geht soweit, daß manche Gefühle zeigen, die sie eigentlich gar nicht zeigen dürften, denn "was könnten nur die andern denken", wenn die merken, daß man mit jemanden zusammen war oder ist, der sich hat "umformen" lassen. Da wird nach außen hin der "normale" Mann gemimt und heimlich kann "gefummelt werden." Also ist man bei manchen ein Mensch zweiter Klasse, was auch wiederum unzufrieden macht.
Von anderer Seite machen sich doch noch Äußerlichkeiten bemerkbar, zum Beispiel die tiefe männliche Stimme, worunter ich sehr gelitten habe, was mich auch wiederum unzufrieden machte.
Viele sagten zu mir, daß ich doch bestimmt keine Probleme in der Gesellschaft habe, da ich nicht auffalle. Zwar wurde ich oft nicht "entdeckt" und war zufrieden, doch sobald meine tiefe männliche Stimme auffiel, bekam ich Panik, weil ich belächelt, verspottet oder auch schon angegriffen wurde. Mein Selbstwertgefühl, das ich mir trotz der Schwierigkeiten mit der Zeit aufgebaut hatte, war dann immer völlig hin. Um dann wiederum diese negativen Gefühle zu unterdrücken, versetzte ich mich in einen Rauschzustand, um aus der Unzufriedenheit eine Zufriedenheit zu machen, obwohl mir unbewußt klar war, daß dieser auch nur zeitlich begrenzt war.
Natürlich gibt es Menschen, die einen akzeptieren, aber es gibt auch solche, die dann vor der Gesellschaft den Schwanz einziehen und dich dann alleine stehen lassen, und gerade soetwas merkt man sich, es entsteht ein Mißtrauen und ein Trotzverhalten. Auch wenn man dann bewußt mitbekommt, daß man ignoriert wird, das macht doch auch irgendwie unzufrieden. Freilich sagt man sich, die anderen können einem doch im Grunde egal sein, was die denken geht mich nichts an. Aber wirklich egal ist es wohl keinem. Irgendwann kommt eine Phase, wo man die Kraft verliert und versucht, neue Hoffnung zu schöpfen, nur dazu braucht man wieder neue Kraft.
Woher aber nimmt man diese?
Schon allein für die Probleme anderer Menschen interessiert man sich doch heutzutage immer weniger.
In meinem Fall schließt sich der Kreis, und ich setze Suchtmittel ein, wobei es mir momentan gut geht, aber ich irgendwie auch weiß, daß ich mich noch mehr kaputtmache. Dann überkommt es einen, man nimmt sich vor, abstinent zu leben und die Makel, welche man an seinem Körper feststellt, nimmt man in Angriff, zum Beispiel den Busen vergrößern, die Stimme operieren sowie die Haare verpflanzen zu lassen. Einerseits tut das der Seele gut und andererseits gibt man der Gesellschaft ein besser passendes Gesamtbild. Leider ist der Druck heute, oder war er, immer so groß.
Wenn es zum Beispiel, wie bei mir mit der Bezahlung der Stimmoperation seitens der Krankenkasse, nicht so voran geht, und sich das ganze ein Jahr hinzieht, ist die Angst und die Unzufriedenheit wieder perfekt. Man versucht sogar, es einem auszureden. Man geht vom medizinischen Dienst zum medizinischen Dienst und hat Angst, daß alles wieder abgelehnt wird, und dazu kommt dann noch das lange warten. Hinzu kommen Situationen, wo man mit fremden Leuten reden muß. Man strengt sich an, kann aber die hohe Stimme nicht halten. Man wird beobachtet und nervös und hört dann: "Na guck mal, das ist doch ein Kerl." Also man spürt wieder, daß man nicht akzeptiert wird, weil man dem Bild der Gesellschaft nicht entspricht.
Dann lebt man vielleicht gerade mal eine Woche abstinent, und das Faß läuft über. Um sich zu beruhigen, nimmt man wieder Medikamente, geht von Arzt zu Arzt und fängt an zu lügen, damit man das bekommt, was man braucht. Das steigert dann das Selbstwertgefühl, was einem von anderer Seite genommen wurde, zumindest für eine Weile. Dabei belügt man sich selbst und andere. Man schämt sich und versucht, aus dem Teufelskreis allein rauszukommen.
Dann ist wieder Pause.
Allerdings erlebte ich auch etwas in anderer Richtung. Ich bekam einen Brief von der Krankenkasse. Gerade wollte ich einkaufen und wollte das Kuvert erst öffnen, wenn ich zurück bin. Mich überkam wieder das mulmige Gefühl, und ich überlegte, ob ich mir nicht gleich was zum Trinken aus dem Supermarkt mitbringen solle, um die vielleicht negative Mitteilung zu ertränken. Doch da entschied ich mich, den Alkohol im Regal stehenzulassen. Als ich zurück war und den Brief öffnete, war es eine Kostenzusage für mich. Doch "aus Freude" nahm ich doch wieder ein paar Medikamente und dachte immer: "Nur noch einmal, nur heute zur Feier des Tages."
Dieser verdammte Selbstbetrug kotzte mich wieder und wieder an. Geht es einem schlecht, nimmt man was, und geht es einem besser, nimmt man auch was. Ein Außenstehender fragt sich dann warum. Eigentlich ist es klar, ich hatte einen Grund zur Freude und war meinem Ziel wieder ein Stück näher gekommen und war doch irgendwie mit mir wieder nicht im Reinen.
Wenn ich so richtig überlege, reagierte in mir die Instanz, welcher Akzeptanz, Zuneigung und Liebe fehlte. Ich kann diese Instanz mit noch so viel Materiellen oder anderen Sachen wie meinen gewünschten Operationen füttern, und sie wird nur befriedigt aber nicht zufrieden sein. Das Materielle kann man sich kaufen und das Geld beruhigt nur macht aber nicht glücklich. Die Liebe und Zuneigung kann sich auch der Reichste nicht kaufen, und er wird, wenn er ehrlich ist, innerlich, wenn ihm Liebe und Zuneigung fehlen, nie zufrieden sein.
Ich muß zugeben, daß ich mich bei mir vom Äußeren leiten lasse, was mein Aussehen angeht. Meine Stimmoperation war deshalb wichtig für mich, weil ich mich sonst weiter der Gesellschaft entzogen hätte, aus Angst, wieder verachtet zu werden und damit die Liebe nicht zu bekommen und damit immer unzufrieden sein würde.
Ich weiß aber auch, wenn ich Liebe bekommen will, muß ich auch Liebe abgeben können. Dazu bin ich vielleicht nicht ganz in der Lage, da ich es früher nicht gelernt habe. Leider mußte ich es in meiner letzten Affäre in Kauf nehmen.
Doch wenn dieses alles erreicht ist, und man das alles auch umsetzt, kann man sagen, das ist Zufriedenheit.
Auch wenn die Menschen sich besser akzeptieren würden und toleranter zueinander wären, dann wäre mehr Zufriedenheit in der Welt vorhanden, und man brauchte sich nicht zu fragen, warum der eine oder der andere sich mit "Liebesersatzdrogen" voll pumpt.
Auch ist das Fatale an der ganzen Sache, daß man gelernt hat, mit Alkohol etc. auch die positiven Seiten zu durchleben, damit man das Negative schneller vergißt.
Chris
Theologische Rechtfertigung für Transsexualität
In der Bibel wird Transsexualität nicht erwähnt. Ich wende als Bibelstelle Markus 9, Vers 43 - 47 auf mich an: "Wenn dich deine Hand zur Sünde verführt, so haue sie ab, es ist besser, daß du verstümmelst ins Leben eingehst ..."
Ich denke, diese Bibelstelle gilt auch für hier nicht aufgelistete Körperteile. Wenn ich also durch Entfernung gewisser männlicher Körperteile soweit von meinen Depressionen befreit werden kann, daß ich dem Evangelium wieder zugänglich werde, so ist das doch eine positive Seite im Sinne Gottes?
Das alte Testament ist für mich nicht relevant, das jüdische Gesetz ist durch Jesus obsolet geworden. Das Argument "Seid fruchtbar und mehret Euch" ist in heutiger Zeit nicht mehr anwendbar. Im Gegenteil! Und das Gebot nach 5. Moses 22, Vers 5, daß ein Mann nicht Frauenkleider tragen darf und die Frau nicht Männerkleider, ist obendrein nicht anwendbar, wenn die Geschlechtsidentität nicht feststeht. Ich selbst bevorzuge geschlechtsneutrale Kleidung. Im übrigen verbietet das Alte Testament auch das Zinsen-Nehmen. Ist also jeder Sparbuchinhaber ein Sünder?
Ein häufiges Argument, was mir entgegengehalten wird, ist: "Wenn Gott gewollt hätte, daß du eine Frau bist, hätte er dich als Mädchen auf die Welt kommen lassen." Mein Gegenargument ist, daß es dann keine Chirurgie geben dürfte und keine Medizin, die über die der Zeitgenossen Jesu hinausgeht. "Denn wenn Gott gewollt hätte, daß du lange lebst, hätte er dir keine Blinddarmvereiterung geschickt", so könnte ich ja kontern.
Ich wurde auch wegen Transsexualität mit Hölle bedroht - dabei hatte ich noch nie im Leben Sex! Ist eine "Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung" eine Todsünde?
Es ist mir nicht gelungen, die Transsexualität zu unterdrücken und gleichzeitig meine psychischen Probleme bei der Arbeit in den Griff zu bekommen. Hätte ich auf Berufstätigkeit verzichtet, um meine Transsexualität zu unterdrücken, wäre ich aber ebenfalls nicht akzeptiert worden und würde den Rest des Lebens in psychiatrischen Anstalten verbringen.
Hätte die Medizin die Möglichkeit zu Gehirnoperationen oder erfolgreiche Elektroschockmethoden - ich hätte es lieber gewählt als den Weg der Transsexualität, denn das Leben als "Transe" ist ebensowenig angenehm wie das Leben mit anderen Behinderungen.
Nach intensiven Selbstmorddrohungen wurde mir mit Hölle gedroht. Dazu folgende Anmerkung: Bei meinen Depressionen habe ich den Gedanken, daß selbst eine Hölle à la Dante immer noch angenehmer ist als die Einsamkeit hier und jetzt. Wenn Gott Selbstmörder mit Hölle bestraft, verhält er sich wie das DDR-Regime, das Republikflucht unter Strafe stellte. Kann man so einen Gott verehren? Ich nicht!
Ich verlor aufgrund dieser Höllendrohung meinen Glauben und habe ihn erst 18 Jahre später wiedergefunden. Kommt also jemand in die Hölle, weil er eine Krankheit hatte, die mit Medikamenten hätte gedämpft werden können, weil also die Chemie in seinem Gehirn nicht stimmte? Dazu bekam ich bis heute keine brauchbare Antwort. Die Kirchen kümmern sich zwar um viele Randgruppen, aber psychisch Kranke gehören offenbar nicht dazu.
Als ich in (psychischer) Not anklopfte, wurde mir nicht aufgemacht - der Pfarrer hatte keine Zeit, er mußte seine Predigt vorbereiten. Ich landete dann in einer Klinik mit atheistischen Therapeuten ...
Danach war ich lange Zeit auf der Suche, sowohl nach einem Gott, dem der einzelne nicht gleichgültig ist, als auch nach einer Gemeinschaft, wo ich dazugehören kann. Erst durch die Operation fand ich wieder zu Gott und der Gesellschaft. Im falschen Körper wäre es mir nicht gelungen.
jjb
Anekdoten
Coming Out
Frau B., meine bulgarische Regieassistentin, wußte gleich, was mit mir los war.
"Wer solche Dinger hat, tut was dafür, daß er sie hat," erklärt sie mit einer Geste, die einen gehörigen Brustumfang andeutet, als ich sie im Vertrauen in einer Drehpause anspreche, weil ich natürlich gemerkt habe, daß sie etwas gemerkt hat.
Aber Frau B. kann den Mund halten, sagt sie. Sie gibt mir nur einen wertvollen Rat: "Wenn du willst, daß keiner merkt, trag BH. Die Dinger wippen ziemlich," sagt sie in ihrem sehr praktisch ausgerichteten Idiom.
Blaß ziehe ich ab.
Am nächsten Tag trage ich einen meiner BHs unter dem Herrenhemd. Ich muß in der Eile am frühen Morgen aber wohl einen Push-Up BH erwischt haben, jedenfalls lacht Frau B. herzlich, als ich das Studio betrete: "Jetzt sieht es wirklich jeder Idiot!"
Hermann
Hermann heißt natürlich nicht wirklich Hermann, ich nenn ihn jetzt einfach mal so, weil es ja sein kann, daß der Mann, um den es hier geht - also der, der nicht "Hermann" heißt - zufälligerweise über dieses Buch stolpert, und dann wäre es ihm bestimmt peinlich zu lesen, wie genau ich mich an bestimmte Dinge erinnere, die sich in seiner Wohnung zugetragen haben, als seine Frau schon zu Bett gegangen war. - Die Folge wäre sicherlich, daß er alles abstreiten würde, mich aber trotzdem - obwohl also "eigentlich" gar nichts passiert ist - nie wieder einladen würde. Und das wäre nun mir wieder nicht recht, weil sich ja dann schlicht gar nichts mehr abspielen könnte.
Bei Hermann - dem "wirklichen" Hermann sozusagen - müßte ich mich jetzt natürlich vorsorglich dafür entschuldigen, daß ich mir seinen Namen ausgeborgt habe, um jemanden "Hermann" zu nennen, der Sachen anstellt, die der wirkliche Hermann niemals machen würde.
Der wirkliche Hermann würde mich zum Beispiel niemals in seine Wohnung einladen, schon gar nicht, wenn seine Frau da wäre. Und wenn sie nicht da wäre, dann erst recht nicht. - Der wirkliche Hermann würde auch nicht so viel trinken, wenn ich gegen jede Wahrscheinlichkeit doch bei ihm zu Besuch wäre. Und Straßen würde er allenfalls aus Asphalt oder Beton bauen (lassen). - Aber das ist dann ein anderes Thema. Da der wirkliche Hermann aber auch so ein Buch wie dieses niemals lesen würde, es sei denn, er würde dafür bezahlt, muß ich mich auch nicht zwangsläufig bei ihm für die Namensentlehnung entschuldigen. Er kriegt sie ja sowieso nicht mit.
Nun habe ich schon einiges angedeutet. Meine ältere Schwester wüßte sicherlich gleich wieder, worauf das alles hinausläuft. Sie würde mich prüfend ansehen und sagen, was sie dann immer zu sagen pflegt: "Aa-ha!"
Aber meine ältere Schwester ist nun wirklich ein Thema für sich.
Jedenfalls war ich vor kurzem bei meinem alten Freund "Hermann" und seiner Frau zu Besuch. Da wir uns beinahe ein ganzes Jahr nicht gesehen hatten, wurde das Wiedersehen ordentlich gefeiert. Wir saßen um den großen Küchentisch rum, aßen ziemliche Mengen Königsberger Klopse ("Hermanns" Frau kocht wirklich ganz vorzügliche Königsberger Klopse) und freuten uns, wie man sich eben so freut, wenn man sich nach langer Zeit mal wieder zu Gesicht bekommt. - Getränke gab es auch, übrigens.
Wir redeten über Gott und die Welt und über mein verändertes Aussehen.
Das sah konkret so aus, daß Hermann beim Aperitif anerkennende Blicke über meinen Körper wandern ließ und dabei seine Frau fragte: "Findest Du nicht auch, daß Johanna inzwischen wirklich wie eine Johanna aussieht?"
Bevor noch jemand antworten konnte, lehnte er sich weit zu mir rüber und brummte etwas betreten: "Du nimmst es mir doch nicht übel, daß ich so darüber rede, oder?" - Ich nahm nicht übel. Im Gegenteil: ich war drauf und dran, alle Warnungen zu vergessen, die meine Mutter meinen älteren Schwestern vor den schmeichelhaften Bemerkungen von Männern mitgegeben hatte. Schließlich war ich damals ja auch nicht direkt angesprochen gewesen, wenn man das mal familiensoziologisch korrekt auslegt.
Hermanns Frau hat natürlich auf Hermanns Frage geantwortet. Ich habe aber leider nicht ganz mitbekommen was, weil ich ganz schnell noch einen zweiten Aperitif trinken mußte.
Bei der Vorspeise - einem vorzüglichen Salat nach einem kreolischen Rezept, das ich mir unbedingt noch von Hermanns Frau geben lassen muß - sprachen wir dann über die neuesten Entwicklungen in der Branche und über mein verändertes Aussehen.
Konkret erklärte Hermann seiner Frau, daß er es nie für möglich gehalten hätte, daß ich mich dermaßen verändern könne. Auch hierzu hat Hermanns Frau ganz sicherlich etwas gesagt, was mir aber leider entging, weil gerade in dem Moment Hermann seine Hand freundschaftlich auf meinen Unterarm legte und bekräftigte, ich sähe gut aus - richtig toll.
Daß auch zur Vorspeise getrunken wurde, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.
Die Hauptspeise bestand dann im wesentlichen aus den schon erwähnten Königsberger Klopsen und wunderbar mehligen Kartoffeln. Das Gespräch wandte sich ernsten Dingen zu, beispielsweise meinen beruflichen Plänen und der Tatsache, daß sich mein Äußeres auf ganz erstaunliche Weise nachhaltig geändert habe. "Wirklich," erklärte Hermann nahezu wörtlich, "Johanna sieht so aus, als hätte sie nie anders ausgesehen!"
Natürlich wurde der Tiefgang unserer Überlegungen auch von der Qualität der gereichten Getränke befördert.
Daß der Nachtisch entfiel, lag schließlich im Interesse aller Beteiligten. Wir hatten uns so viel zu erzählen, daß es nur gestört hätte, hätten wir zwischendurch noch etwas essen müssen. - Es waren außerdem noch Getränke zur Hand.
Die Gespräche wandten sich allmählich wieder leichteren Themen zu - nämlich den allerjüngsten Entwicklungen in der Branche und meinem veränderten Aussehen.
Der Gesprächsstoff ging uns nicht aus, bis Hermanns Frau gegen Mitternacht - oder eine Zeit, die so schien, als könne sie auch Mitternacht sein - entschied, es sei jetzt Zeit, ins Bett zu gehen, zumindest für sie.
Ihr Weggang führte zu einer länger anhaltenden Pause im Gespräch.
Aber es gab noch Getränke. Und endlich nahm Hermann den Faden wieder auf, indem er bekräftigte, Johanna sei eine wirklich tolle Frau.
Die dann folgenden Bemerkungen konnte ich nur mit geschlossenen Augen verkraften. Wirklich: Hätte ich sie offengehalten, wäre ich garantiert knallrot angelaufen vor lauter Verlegenheit.
Aber irgendwann machte ich die Augen dann doch wieder auf, und zwar ungefähr zu derselben Zeit, als ich mein Hemd und meine Hose, die ich beide nicht selbst geöffnet hatte, wieder schloß. - Als Argument fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, daß ich unbedingt ins Bett müsse.
Daß ich es dann nicht abgelehnt habe, mir von Hermann mein Gästebett zeigen zu lassen, kann ich nur auf einen Zustand umfassender Verwirrung zurückführen, in dem ich mich befand. Jedenfalls spielten irgendwelche Getränke keine Rolle mehr.
Daß Hemd und Hose noch mehrfach auf- und wieder zugingen, bis ich Hermann aus dem Zimmer schob und zu seiner Frau ins Bett schickte, erwähne ich hier nur der Vollständigkeit halber.
Daß ich ihn dabei ziemlich wüst umarmt und ihn zu ebenso wüsten Küssen animiert habe, mag die Entschlossenheit illustrieren, mit der ich meine Unschuld und seine Ehre rettete.
Ich hoffe, ich hab irgendwann mal was davon. Soviel Aufrichtigkeit und Konsequenz muß schließlich belohnt werden.
Keine Gnade
Frau G. kriegt den Mund nicht mehr zu, als ich ihr schließlich die ganze Geschichte beichte: "Rausgeschmissen hast du ihn? Weggeschickt - und dann noch zu seiner Frau?" Sie faßt es nicht, und am wenigsten faßt sie es, daß ich auch noch genauso aussehe, als wäre diese Geschichte tatsächlich wahr. "Sowas Blödes kannst selbst du dir nicht ausdenken," schimpft sie.
Frau G. ist meine Vermieterin, eine Frau Anfang der Fünfzig, alleinstehend, klein und schrecklich lebendig. - Schrecklich ist auch ihre Begeisterung für jeden esoterischen Quark, der ihr zwischen die Finger kommt. An dem kann sie rumkneten, bis ganze Weltbilder ins Wanken kommen und die Weltgeschichte komplett umgeschrieben werden muß. Normalerweise geschieht so etwas alle zwei Wochen - und zwar versetzt zur Mondphase, falls das jetzt irgendjemandem etwas sagt. Mir sagt es nichts, das muß ich zugeben. Ich glaube auch nicht, daß die ganze Esoterik für Frau G. mehr ist als ein netter Zeitvertreib: andere Zeitgenossen bauen sich Schiffsmodelle aus Streichhölzern und schieben sie dann in zuvor leergetrunkene Flaschen; da kann Frau G. sich ebensogut ein Universum aus Spielkarten mit bunten Bildchen drauf basteln.
Aber im wirklichen Leben zählen für Frau G. praktische Erfahrungssätze, und einer der wichtigsten ist: "Niemals darf eine Frau sich von Männern an der Nase herumführen lassen - und von deren Frauen schon gar nicht!"
Wenn ich einen Mann abkriegen wolle, dürfe ich mich nicht von treuherzigen Ehefrauen ablenken lassen. Sicherlich habe mich Hermanns Frau auch bewundert, bohrt Frau G., gewiß habe sie mir geschmeichelt, wie geschmackvoll ich mich kleide und wie schön geschminkt ich sei.
Ich nicke kleinlaut: Jaja, aber das habe sie doch ehrlich gemeint, oder kleide ich mich etwa geschmacklos?
Frau G. lacht höhnisch: Sowas kann sie schon mal gar nicht hören. - Eingewickelt habe mich die Tante, außer Reichweite ihres Mannes habe die mich schieben wollen.
"Mach dir klar, Püppi, daß deine Zielgruppe aus Männern um die Fünfzig besteht, und an denen ist ja auch nicht alles schlecht - außer, daß sie nun mal verheiratet sind. Zumindest die, die irgendwie interessant sind."
Erfahrene Frauen wie sie, sagt Frau G., wissen in einem solchen Fall schon aus Erfahrung, wie die Sache zu laufen hat. Frau G. sagt: "In so einem Fall gibt's nur eins, nämlich: keine Gnade."
Nachdem sie mir so eine Weile ins Gewissen geredet hat, will Frau G. ganz zum Schluß dann noch etwas wissen. Sie hat es sich sehr lange aufgespart: es betrifft ihren Ex-Freund, den sie vor einem halben Jahr zum Teufel geschickt hat.
Am Tag, bevor sie ihn zum Teufel geschickt hat, feierte Frau G. ihren fünfzigsten Geburtstag. Ich hatte spät nach Mitternacht noch einen Ordnungsfimmel bekommen und zwei Stunden lang die Wohnung aufgeräumt und danach noch mit Frau G.s späterem Ex-Freund in der Küche gesessen. Frau G.s Ex-Freund ist auch so um die Fünfzig. Jetzt will Frau G. wissen, "ob da was war".
Frauen schlafen nie ...
"Immer nur lächeln ..."
Auch immer wieder ein Ort für die Anbahnung mißlungener sozialer Beziehungen: die Damentoilette.
Vor den Spiegeln stehen zwei Frauen, die sich nach Erledigung ihrer "Geschäfte" für den Wiedereintritt in die Kneipenöffentlichkeit nachschönen. - Das heißt: Wenn man genau hinsieht, stehen da eine Frau und noch eine Frau. Die erste Frau ist etwa dreißig Jahre alt und sieht so aus, wie die meisten Frauen um die dreißig aussehen, jedenfalls dann, wenn sie regelmäßig dieses Lokal besuchen, dann sehen sie nämlich alle so aus, als kämen sie gerade aus einer Redaktionskonferenz oder von einer Besprechung der debis-Öffentlichkeitsarbeit: eine Parade in schwarzen Pumps und schwarzen "Satin Opaque"-Strumpfhosen bis unter die schwarzen Mini-Kostüme, die am besten zu langen Haaren getragen werden.
Schwarze Strumpfhosen trägt die zweite Frau ebenfalls. An ihr fällt bei genauerem Hinsehen allerdings auf, daß kaum noch auffällt, daß sie wohl mal als Mann geboren worden ist.
Das jedenfalls fällt der ersten Frau auf, weil sie nämlich genau hingesehen hat.
Die Frau, die offensichtlich wohl als Frau geboren wurde, sagt aber erst mal nichts. Sie beobachtet die andere nur. Vielleicht will sie herausfinden, ob die alles richtig macht, oder ob es angebracht wäre, ihr ein paar hilfreiche Tips zu geben. Vielleicht ist sie aber auch nur ein Trash-Fan auf der ständigen Suche nach abseitigen Kultobjekten.
Die zweite Frau merkt natürlich, daß sie beobachtet wird. Sie sagt aber erst mal auch nichts. Statt dessen versucht sie zu verhindern, daß sich ihre eigenen Blicke mit den offensiven Seitenblicken der ersten Frau treffen. Das geht natürlich schief.
Und nun grinst die erste Frau (die, die offensichtlich wohl als Frau geboren wurde) die andere (die, bei der kaum noch auffällt, daß sie wohl mal als Mann geboren worden ist) zufrieden an:
"Wissen Sie," sagt die erste Frau mit einem dosierten Hauch Anerkennung in der Stimme, "ich finde das gut, wie Sie das machen. - Grundsätzlich nur noch auf die Damentoilette gehen: das nenn ich mal konsequent."
Die Angesprochene zuckt zusammen, als hätte sie in eine Steckdose gegriffen, schafft es dann aber irgendwie, zu lächeln:
"Wohin," fragt sie zurück, "gehen Sie denn üblicherweise, wenn Sie mal müssen? - Aufs Katzenklo?"
Ruhleben zurückbleiben
Ich liebe U-Bahn-Fahren.
U-Bahn-Fahren erweitert den Horizont ganz ungemein, und es bringt Erfahrungen, die andernfalls zäh im Alltag verplempert wären, auf herrlich beiläufige Weise auf den Punkt. Wer je das Musical "Linie 1" und den unvergeßlichen Auftritt der "Wilmersdorfer Witwen" darin gesehen hat, wird bestätigen können, daß U-Bahn-Fahren, in Berlin zumal, besser kommt als jeder Trip.
Und man muß gar nicht mal viel anlegen. Man kriegt 2 Stunden Wahnsinn für DM 3,90, sauber verpackt und anständig gemixt, dazu mit garantierter Wirkung, und vor allem: völlig legal. Das sollen die Holländer mit ihren Coffee-Shops den Berlinern mal nachmachen! - Aber wo sollen die Holländer auch U-Bahnen bauen?
Natürlich entscheidet auch hier, wie in allen anderen Fällen der eventlastigen Mode, die richtige Garderobe. - Wer sich mit vollentwickeltem Dreitagebart und prächtiger Brustbehaarung in Vampkleider quält, wer sich im Marilyn-Kostüm auf den Entlüftungsschacht stellt, obwohl man seinen Beinen noch den Gang übern tiefen niedersächsischen Acker ansieht, kriegt seine Lacher auf dem Tuntenball und ist dort sicher besser aufgehoben. Und ganz sicher fährt er dort auch eher mit der Limousine vor - und wieder weg. - Auch die vielumjubelten "Drag Queens" und die jungen Transvestiten, die heimlich Mutters Strumpfhalter und Schlüpfer klauen, um zu so rührenden Veranstaltungen wie der "Verleihung des 'Miss Trombose-Preises'" aufzulaufen, können in dieser Stadt auf die U-Bahn verzichten. Zu derart besonderen Anlässen reicht die Sozialhilfe dann eben doch für's Taxi. Und das ist auch richtig so, Jungs: Warum seine Reize, wo Ihr sie schon für so was Besonderes haltet, an ein demokratisches Publikum verschwenden?
Für die U-Bahn empfehle ich eher die Attitüde der unbeabsichtigten Eleganz, eine ephemere Note des Passageren, des nur zufällig Verweilenden, wie sie Transsexuellen ohnehin zu einer Art zweiter Natur geworden ist. Am Besten, man hat nur gerade vor, mit der U-Bahn zum Arbeitsamt oder zum Telephondienst oder nach Hause zu fahren. Am Besten man ist so gekleidet, wie es diesen Anlässen entspricht. Und am besten verhält man sich so, daß man gar nicht groß auffällt. Dann ist das Erlebnis garantiert nachhaltig. - Und in jedem Fall eine U-Bahn-Fahrt wert.
Dumm gelaufen
Ein gut besetzter U-Bahn-Waggon. Am Potsdamer Platz steigt eine junge Kleinfamilie zu, Vater und Mutter knappe dreißig, oder knapp darüber, und ihr etwa 8-9jähriger Filius mit frechem Bürstenschnitt und überaus wachen, neugierigen Augen. Bestimmt der Stolz seiner Erzeuger.
Die drei nehmen die freien Plätze mir direkt gegenüber ein. Senior und Seniora werfen je einen kurzen prüfenden Blick auf mich, dann nicken sie einander bestätigend zu.
"Schon wieder verloren," denke ich, "wieder zwei, die es rausgefunden haben. Bald wird die ganze Stadt Bescheid wissen."
Aber es kommt anders. Junior hat nämlich das Nicken seiner Eltern bemerkt und will nun lautstark wissen, welche Geheimnisse seine Bezugspersonen über seinen Kopf hinweg auszutauschen haben. Seniora wendet sich sofort scheinbar desinteressiert ab, während Senior dem Junior tuschelnd zu verstehen gibt, es sei doch bisher ein sehr schöner Nachmittag gewesen.
Der läßt sich aber so billig nicht abspeisen, zumal er mich inzwischen auch entdeckt hat. Jetzt will er wissen, ob seine Eltern "die Frau da" - er deutet zu mir hin - kennen.
"Nein," zischt Senior unbehaglich, während Seniora angelegentlich ihre Fingernägel begutachtet.
Junior ist unerbittlich: "Aber irgendwie habt Ihr doch was!"
Senior wiegelt ab, was er sagt, verstehe ich zwar nicht, aber egal: Junior weiß offensichtlich ohnehin, daß sein Vater ein miserabler Lügner ist. Jedenfalls ist er mit der wieder nur geflüsterten Erklärung nicht zufrieden: "Ich hab genau gesehen, was Ihr gemacht habt!"
"Pscht!" entfährt es jetzt Seniora. Senior versucht, den Knaben in ein Spiel zu verwickeln, was aber nur teilweise gelingt. Denn jetzt kommt Junior auf eine neue Spur: Sein Vater kennt "die Frau da", aber es ist ihm peinlich. Er soll das doch jetzt mal sagen.
Inzwischen haben wir "Gleisdreieck" verlassen.
Hoch über der Baustelle am Potsdamer Platz droht die Situation zu eskalieren. Seniora rückt von ihren beiden Männern ab, während es dem Senior sichtlich eng wird am Hals. - "Junge, Junge, Du hast vielleicht 'ne Phantasie," stöhnt er.
Und dann sieht Senior mich bittend, fast flehend an.
Aber was soll ich da schon groß machen? - Junior genießt ja meine volle Sympathie: Soll der Alte doch mal eine Frage, die wirklich von Bedeutung ist, vernünftig beantworten, statt bloß andauernd den netten zu groß gewordenen Spielkameraden raushängen zu lassen.
Aber Daddy bringts einfach nicht.
So ein Pech aber auch.
Einzeln und von Hand waschen
Die alte Frau aus der Wäscherei an der Straßenecke hat mich in ihr Herz geschlossen.
Wir haben zwar nie viel miteinander geredet, und anfangs waren die Blicke, die sie mir zwischen ihren Wäschebergen hindurch zuwarf, mehr als skeptisch - so als fragte sie sich, ob ich womöglich ein Frauenmörder mit einer Vorliebe für Damen mit der Konfektionsgröße 42/44 sei. Oder ein sonstwie pervers veranlagtes Individuum, das Damen entsprechenden Zuschnitts solange bequatscht, bis die zur abendlichen Verabredung im Restaurant ihre teuersten Bodies, Blusen und Röcke anlegen, nur um sie dann unter den demütigenden Blicken der anwesenden Gäste und des entsetzten Personals mit Olivenöl, Pfeffersahnesauce, Rigatoni ai funghi, oder was sonst die Speisekarte hergibt, zu bewerfen - und dann noch, Krönung der Schmach, Parfum aus nächster Nähe drübersprüht, wahrscheinlich unter unverschämtem Hohngelächter und vernichtenden Bemerkungen, wie etwa: Schönheit habe nun einmal ihren Preis und für manche Damen sei der eben besonders hoch.
Vor einem Jahr zog ich in diese Gegend und einer meiner ersten Gänge führte mich in diese Wäscherei. Eine weiße Bluse, bei einem unvorhergesehenen Gewitterguß völlig durchnäßt, hatte von der darüber getragenen Weste Farbe gezogen. Die Bluse war nicht zu retten, ich war untröstlich, und die alte Frau blitzte mich feindselig an.
Mein nächster Auftrag, ein paar Hosen und T-Shirts, erwies sich wenigstens als ausführbar. Was das betraf, war die Alte zufrieden. Sie behielt aber trotzdem meine Hände im Auge, als ich die DM 38,20 Vorkasse aus meinem Portemonnaie fummelte - nicht, daß ihr diese Hände plötzlich an die Kehle gingen!
Ich bemühte mich nicht besonders, das Mißverständnis aufzuklären, das hier offensichtlich vorlag. Für mich war die kleine Wäscherei an der Ecke eben die kleine Wäscherei an der Ecke. Sie war bequem zu erreichen, sie erledigte die Aufträge, die sie erledigen konnte, zu meiner Zufriedenheit und zu bezahlbaren Preisen, und sie hatte das, was kleine Wäschereien an einer Straßenecke in einer viel zu groß gewordenen Stadt manchmal haben: einen Charme, der aus beinah trotziger Gleichgültigkeit gegenüber der blitzsauberen Hochgeschwindigkeits-Einkaufsmeile, die an der nächsten Straßenecke beginnt, gepaart mit einer antiquiert anmutenden Hingabe an das einzelne und unverwechselbare Kleidungsstück erwuchs.
Es war diese Leistung für meine Kleider, die ich schätzte, dieses fast schon hermeneutische ("Ich bin eine Wäscherin, kein Fleck ist mir fremd!") Bemühen um jeden Stoff und um jeden unverwechselbaren Fleck darin. Kleider wollen nämlich als Teil der Persönlichkeit behandelt werden, die sie auf der eigenen Haut trägt. Deshalb ging ich immer wieder in die kleine Wäscherei an der Straßenecke - trotz der feindseligen Blicke der Alten.
Dennoch sprachen wir kein Wort miteinander außer denen, die zur Abwicklung unserer Geschäfte nötig waren. Ich nannte brav meinen Nachnamen - für den Abholzettel, die Alte nannte den Preis, ich holte die Sachen ab - das war's.
Ein halbes Jahr verstrich so. Ich brachte meine Wäsche, zahlte, nannte meinen Nachnamen, ging und holte die gereinigten Sachen wieder ab. Immer sah die alte Frau mich feindselig an. Und immer vermied sie es, mich direkt anzusprechen. Sie sagte nie: "So, Herr B., die Flecken sind gottlob raus." - Sie sagte gar nichts. Und ich sah keine Notwendigkeit, Erklärungen abzugeben.
Aber es arbeitete in ihr.
Sie sah mich lässig, gelangweilt, selbstbewußt. Sie sah mich geschminkt, eine von sich selbst überzeugte Frau. Sie sah mich bärtig, auf dem Weg zur Epilation, gehetzt, auf dem Weg zur Arbeit, deprimiert und gegen die Tränen kämpfend, die mir ein gemeiner Spruch oder einfach meine Lebensumstände in die Augen trieben.
Einmal fragte sie mich, ob es Ärger mit meiner Freundin gegeben hätte. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Blick nicht mehr ganz so feindselig - denn: sollte ich auch ein perverser Lüstling oder gar ein hundsgemeiner Frauenmörder sein, so gehörte ich dennoch sozusagen zu ihrem Kundenstamm, und für den hat sich eine Geschäftsfrau eben doch zu interessieren.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich antwortete, aber es klang wahrscheinlich düster genug, um der alten Frau einen gehörigen Schrecken zu versetzen. Ich glaube, daß ich ihr gesagt habe, es gebe keine Freundin. Wahrscheinlich habe ich, wie es für meine depressiven Launen typisch ist, auch noch hinzugesetzt, daß es ohnehin keine Freunde gebe auf der Welt. Und für mich erst recht nicht.
Sie zuckte merklich zusammen, schwieg aber. Ich zahlte, nahm meinen Abholschein und ging.
Am darauffolgenden Mittwoch war die alte Frau nicht wiederzuerkennen. Sie rannte in ihrem Laden herum, hob Wäschepakete hoch, zielte mit ihrer Angel in die an der Decke aufgehängten Teile, schimpfte auf die Reinigungsfahrer, daß es eine Pracht war, sie wirken und wirbeln zu sehen.
Schließlich knallte sie die versammelten Stücke vor mir auf den Tisch und krakeelte vor der versammelten Kundschaft (als habe das halbe Stadtviertel eigens für diesen Anlaß versammelt werden müssen): "So, Frau B., jetzt haben wir's zusammen, glaub ich!"
Ich lief puterrot an und versuchte, etwas zu sagen, was sich wie "Vielen Dank" anhören sollte. Aber es kam nur ein Krächzen heraus. Verstohlen blickte ich mich um. Keiner der Anwesenden schien Anstoß oder überhaupt nur Notiz zu nehmen.
Seitdem jedenfalls scheint die alte Frau aus der Wäscherei einen Platz in ihrem Herzen für mich reserviert zu haben.
Vielleicht muß man ja auch Leute, die regelmäßig die teuersten Bodies, Blusen, Röcke und Kleider mit allem, was die Speisekarten hergeben, versauen, in sein Herz schließen. Vor allem, wenn man Wäschereibesitzerin ist.