Vorwort
Endlich ICH. Um was für ein Buch handelt es sich hier, werden Sie sich vielleicht fragen und vor allem für wen. Ein Buch von Transsexuellen, für Transsexuelle oder wen? Eine Sammlung autobiografischer Texte? Eine Abhandlung über das Phänomen Transsexualität?
Welche Bedeutung hat Transsexualität in diesem Zusammenhang und was wollen wir unter diesem Begriff verstanden wissen?
In der Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 10, Heft 2 vom Juni 1997 wird in der Einleitung zu "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen" noch eine veraltete und rigide Definition wiedergegeben: Demnach sei Transsexualität durch die dauerhafte innere Gewißheit, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, gekennzeichnet. Dazu gehöre die Ablehnung der körperlichen Merkmale des angeborenen Geschlechts und der mit dem biologischen Geschlecht verbundenen Rollenerwartungen sowie der Wunsch, durch hormonelle und chirurgische Maßnahmen soweit als möglich die körperliche Erscheinungsform des Identitätsgeschlechts anzunehmen und sozial und juristisch anerkannt im gewünschten Geschlecht zu leben.
Diese Darstellung blendet wichtige Aspekte aus. Geschlechtsidentität kann sich grundsätzlich anders entwickeln, als es die körperlichen Merkmale erwarten lassen. Wobei auch klar sein sollte, daß eine starre Zweiteilung nach biologischen Gesichtspunkten gesellschaftlich gemacht und nicht naturgegeben ist. Personen, die sich nicht in die für sie vorgesehene Geschlechtsidentität (und zumeist der als untrennbar hiermit verbunden geglaubten Geschlechtsrolle) einordnen, müssen sich Anderen erklären. Fällt dann ihre Entscheidung "im anderen Geschlecht" zu leben, wird von ihnen immer noch erwartet, widerspruchsfrei zu leben und einen imaginären Idealtyp Mann bzw. Frau zu verkörpern.
Dies scheint aber in der heutigen Zeit überholt, da Gleichberechtigung und Aufbrechen starrer Rollen von vielen Menschen gewünscht wird. Weil transsexuelle Menschen "wie Du und Ich" sind, gibt es auch hier eine breite Palette an Ausdrucksformen. Ihnen einen Idealtyp Mann/Frau vorzuschreiben ist anmaßend und spiegelt gewalttätige Herrschaftsstrukturen wider.
Die Kritik an geforderten Idealtypen beschränkt sich nicht nur auf das äußere Erscheinungsbild und Rollenverhalten, sondern auch auf die vorausgesetzten hormonellen und chirurgischen Maßnahmen. Es gibt einige Transsexuelle, die aus den verschiedensten Gründen keine chirurgischen Eingriffe vornehmen lassen und wenige, die hormonelle Maßnahmen ablehnen. Sie geraten unter der oben genannten Definition unter Druck oder werden als Transsexuelle gar nicht erst ernstgenommen. Auch dieser Teil der Kategorisierung sollte deshalb überdacht werden, da er realitätsfern und fremdbestimmend ist. Wichtigstes Ziel sollte nicht die Erreichung von "weiblichen" und "männlichen" Normen mittels angleichender Veränderungen sein, sondern ein Wohlfühlen im und Annehmen des eigenen Körpers. Eine der Autorinnen schreibt dazu: "Es ist jedenfalls kein Vergleich mehr zu früher. Ich kann mich jetzt mit meinem Körper identifizieren."
Zu obiger Definition nun noch eine Bemerkung zur Formulierung "gewünschtes Geschlecht": Das Geschlecht ist für Transsexuelle ebensowenig wünschbar oder wählbar wie für Andere. Ein solcher Begriff ist abwertend, weil es für Transsexuelle selbst keinen Wunsch gibt, sondern nur das Gefühl welches Geschlecht das ihre ist.
Transsexuelle Erlebniswelten in Prosa und Lyrik - was verbirgt sich dahinter, was ist das Besondere hieran?
Das Besondere an diesen Menschen ist, daß sie ihre Empfindungen in Worte gefaßt und zu Papier gebracht haben. Sicherlich spielt die Entwicklung dieser Menschen und somit ihre Vergangenheit für das, was sie erzählen oder wie sie ihre Empfindungen bewerten und darstellen, eine Rolle. Aber eben nur eine unter vielen - wie bei Anderen, die schreiben, eben auch. Und wie bei anderen Schreibenden auch, soll dieses Buch zum Lesen, Träumen und Denken anregen.
Es soll aber auch einen Blick in die Denkwelten der AutorInnen ermöglichen, ohne sich dabei einer wissenschaftlich-pathologischen Blickweise zu bedienen.
Allzuoft beschäftigen sich "Experten-Bücher" zum Thema Transsexualität mit Transsexuellen als Objekte, deren abnorme Abweichungen einer Erklärung bedürfen. Transsexualität wird aus medizinischer oder psychologischer Sicht als Störung verstanden, über die geschrieben wird, ein Gespräch mit Transsexuellen kommt nicht zustande. Soziologen benutzen Transsexualität und Biografien transsexueller Menschen, um ihre Thesen zu gesellschaftlichen Geschlechtsbildern und -rollen zu untermauern.
Dies war einer der Beweggründe für Bernhard Wegener, die zu der Idee führten, ein etwas anderes Buch zusammenzustellen. Ein Buch, das die Menschen selbst sprechen läßt über Dinge, die sie wirklich bewegen, und in einer Weise, wie sie es für richtig erachten. Er brachte uns an einen Tisch und initiierte die Auseinandersetzung miteinander. Denn alle hatten individuelle und somit unterschiedliche Vorstellungen von Geschlecht, Identität, Transsexualität und der Art und Weise der Darstellung. Im Verlauf dieses Projektes gab es immer wieder wechselnde MitstreiterInnen, die sich ergänzten aber auch kritisch miteinander umgingen. Da keine Vorgaben bestanden, hat sich das jetzt vorliegende Werk erst nach und nach in diese Form entwickelt. Für die Initiative von Bernhard Wegener und dem Engagement aller Beteiligten und hier ganz besonders Thomas Seidel für die textliche Gestaltung sei an dieser Stelle gedankt.
Wenn sich dieses Buch jeder Kategorisierung entzieht und sowohl unter Belletristik, als auch in Fachbuchhandlungen unter Geschlechtsidentiät - Textsammlung zu finden ist, so ist eine Absicht der AutorInnen erreicht.
Und wenn Sie - liebe Leserin, lieber Leser - durch diese Texte erst auf den Begriff Transsexualität gestoßen sind, sich auf die Gefühle und Gedanken der AutorInnen einlassen konnten, auch wenn Sie sich vorher nie mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, so war auch dies beabsichtigt.
Stefan Rauner, Berlin im Dezember 1997